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lümlichkeit und Größe und einer wahren Klassizität auf, so daß sie
neben der alten Zeit nicht zurückstehen darf.
Länger als zwei Jahrhunderte war die Literatur der Griechen
und Römer bei uns Gegenstand des eifrigsten, angestrengtesten, all-
s gemeinsten Studiums, täglicher Lektüre und unbedingter Verehrung
gewesen; länger als zwei Jahrhunderte hatte sich der deutsche Geist
gedemütigt vor dem fremden und sich in der Kindheit, in der Jugend
und im Alter von ihm in die Schule führen lassen, länger als ein
Jahrhundert war es her, seitdem dieser fremde Geist alle eigentümliche
10 deutsche Dichtung, ja sogar alle deutsche Gesinnung fast vernichtet hatte,
um allein zu herrschen; und welche Früchte hatte bis dahin jenes
Studium, jene Verehrung, welche Früchte hatte bisher diese strenge
Schulübung nicht etwa für die deutsche Dichtung — denn diese war
beinahe von dem Fremdling zerstört worden —, sondern nur für den
i5 Geschmack und die innere Bildung der Deutschen getragen? Es ist
fast kläglich anzusehen, welche völlige Bewußtlosigkeit von dem inneren
Werte jener großen antiken Dichtungen während jener ganzen Zeit in
Deutschland herrschte: — stritt man doch ganz ernsthaft darüber, ob
Homer oder Virgils den Vorzug verdiene, und entschieden sich doch mit
so den Franzosen die meisten Deutschen unbedenklich für den „polierten"
Virgil, wie u.a. noch aus dem Gespräche König Friedrichs II. mit Eellert
zu ersehen ist; — es ist kläglich anzusehen, wie man jene edlen Erzeug¬
nisse des römischen und noch mehr des griechischen Geistes als bloße
Phraseologieen^) mißhandelte, und am kläglichsten, welche hölzerne,
25 steife, geistesleere Nachahmungen des Antiken man zu Markte brachte,
in denen auch nicht ein Funke des antiken Dichterfeuers glühte. Man
blieb mit einem Worte jahrhundertelang auf dem Standpunkte des
unmündigen, ängstlich lernenden, mit saurer Mühe in beschränktem
Kreise der Anschauung sich plagenden Schülers stehen, bis endlich mit
so Klopslock die lange Schulzeit vollendet war und das durch so lange und
so allgemein getriebene Übungen Erlernte, in Saft und Blut Ver¬
wandelte als freies Eigentum des freigewordenen Geistes an das Licht
trat. Wir haben in Vergleichung mit allen unseren Nachbarvölkern eine
bei weitem längere, bei weitem härtere Schulzeit durchlaufen müssen;
35 dafür aber haben wir auch, wie kein anderes Volk der Neuzeit, nach¬
dem eine lange Reihe von Generationen hindurch eine untergeordnete,
schulmäßige Beschäftigung mit den Alten fast in allen Klassen der
Gesellschaft gedauert hatte, den dichterischen Geist dieser Alten uns
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*) Vergilius Maro (70—19), Dichter des römischen Nationalepos „Aneis".
®) Sammlungen von Redensarten.