Full text: Prosa für Lehrerseminare (Teil 3)

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des Ganzen als den eigentlichen von ihm gemachten Fortschritt an. 
Viel früher aber spricht er dies höchste Erfordernis eines Kunstwerks 
wundervoll klar und schön in den Künstlern aus. Was er unter 
einer solchen Behandlung eines dramatischen Stoffes verstand, zeigte 
er gleich an dem schwierigsten in dieser Hinsicht, am Wallenstein. 5 
Selten hat ein Dichter größere Forderungen an sich und seinen Stoff 
gemacht, wenn man Shakespeare ausnimmt, nicht leicht ein zweiter eine 
solche Welt von Gegenständen, Bewegung und Gefühlen in einer 
Tragödie umfaßt. 
Die auf Wallenstein folgenden Stücke zeigen, daß Schiller in 10 
gleicher Art fortarbeitete. In der Tat bestand sein Leben darin, 
daß er als Dichter übte, was er irgendwo vom idealisch gebildeten 
Menschen überhaupt sagt, soviel Welt, als er mit seiner Phantasie 
zu erfassen vermochte, mit der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Erschei¬ 
nungen in sich zu ziehen und in die Einheit der Lunstform zu ver-15 
schmelzen. Daher sind seine Tragödien nicht Wiederholungen eines 
zur Manier gewordenen Talents, sondern Geburten eines immer 
jugendlichen, immer neuen Ringens mit richtiger eingesehenen, höher 
aufgefaßten Anforderungen der Kunst. Sie haben längst das Urteil 
der Mitwelt erfahren; sie können mit Ruhe das der nachfolgenden 20 
Geschlechter erwarten. Lange noch werden sie die Bühne beschäftigen, 
dann ihren Platz in der Geschichte deutscher Dichtung einnehmen. 
Der Dichter führt nicht neue Wahrheiten ans Licht, sammelt nicht 
Tatsachen. Er wirkt in der Art, wie er schafft; der Phantasie aller 
Zeiten führt er Gestalten vor, die erheben und bilden; er leistet dies 25 
in der Form, in die er seine Gegenstände kleidet, in den Charakteren, 
mit welchen er die Menschheit idealisch bereichert, in seinem eignen 
aus allen seinen Werken widerstrahlenden Bilde. So begeisternd und 
bildend durch Erhebung und Rührung, wird auch Schiller lange und 
mächtig auf seine Nation fortwirken. 30 
Er wurde der Welt in der vollendetsten Reife seiner geistigen 
Kraft entrissen und hätte noch Unendliches leisten können. Sein Ziel 
war so gesteckt, daß er nie an einen Endpunkt gelangen konnte, und 
die immer fortschreitende Tätigkeit seines Geistes hätte keinen Still¬ 
stand besorgen lassen; noch sehr lange hätte er die Freude, das Ent- 35 
zücken, ja wie er es in einem seiner Briefe bei Gelegenheit des Plans 
zu einer Idylle so unnachahmlich beschreibt, die Seligkeit des dichte¬ 
rischen Schaffens genießen können. Sein Leben endete vor dem 
gewöhnlichen Ziele; aber solange es währte, war er ausschließlich und 
unablässig im Gebiete der Ideeen und der Phantasie beschäftigt; von 40
	        
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