Full text: Prosa für Lehrerseminare (Teil 3)

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60» Emanuel Geibel. 
Stephan Waeholdt. Tmanuel Geibel. Hamburg 1885. S. lff. 
Vor wenigen Monaten ging durch die Zeitungen ein Aufruf, in 
welchem Beitrage für ein Denkmal erbeten wurden, das unsre Schwester- 
stadt Lübeck ihrem Sohne, Emanuel Geibel, errichten will. Mancher 
hat damals sich gefragt: „Weshalb ein Denkmal zu Ehren Geibels, 
b solange die Standbilder verdienterer Männer noch fehlen? Wo er¬ 
heben sich die Denkmäler Rückerts, Lenaus, Chamissos?" — Unsre 
tatenlustige, in Leben und Dichtung dem Realen zugeneigte Zeit 
hat wenig Sinn mehr für den stillen Genuß einfacher Lyrik. Wir 
lächeln überlegen, wenn in der Erinnerung die Lieder aufsteigen, 
io die einst, in jener schwärmerischen Zeit, für welche unsre Sprache nur 
das undankbare Wort Flegeljahre kennt, uns entzückten und zu Tränen 
rührten. Die Prosadichtung, vor allem der Roman, hat die Poesie 
überwuchert; unser schnellebiges Geschlecht verlangt Erregung, Span¬ 
nung, Interesse. Geibel aber ist eine im Grunde beschauliche, lyrische 
i5 Natur, er hat außer einem kleinen Lustspiel nur Verse geschrieben. 
So mag jetzt, ein Jahr fast nach des Dichters Tode, nun die 
Nänien^) verklungen, die lyrischen Nachrufe und die Weihrauch-Artikel 
vergessen sind, die ruhige Frage gestattet sein, ob Geibel, dem Dichter, 
in der Tat alle Lorbeerkränze gebührten, die seinen Sarg geschmückt, 
2o ob die Nachkommen wohl das enthusiastischeUrteil über ihn bestätigen 
werden, die Frage auch, worin denn das nur ihm Eigentümliche, das 
Unvergängliche beruhe, das uns berechtigt, sein Andenken zu ehren. 
„Wer den Dichter will verstehn, 
Mutz in Dichters Lande gehn." 
rs Heimat und Vaterhaus bestimmen die Entwicklung des Menschen 
zuerst. In dem „Buch der Elegieen" hat Geibel den Eltern und der 
Vaterstadt Lübeck ein schönes Denkmal gesetzt. Von den Großen des 
deutschen Geistes ist mancher, wie unser Dichter, eines protestantischen 
Pfarrers Sohn gewesen. Die ernste Festigkeit der Lebensführung, 
so die sittliche Grundstimmung seines Wesens, den tiefreligiösen Zug 
seines Herzens dankte Geibel dem Vater. In der Mutter „floß noch 
ein Tropfen leichten französischen Blutes", sie lachte und scherzte gern; 
deutsch war in ihr das sinnige Gemüt, die Neigung zur Natur und 
ihren ewigen Reizen, die sie dem Auge des Lieblings früh deutete. 
83 Wie ein Llang aus Goethes Kindheit muten Geibels Worte uns an: 
*) Trauerlieder.
	        
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