Full text: Für Präparandenanstalten (Teil 1)

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Am Fuße einer Weißtanne lag ein Mann. Ein Jägersmann mit einem 
Schießgewehr; die Locken gingen ihm über Stirn und Auge, man wußte nicht, 
ob er denn wirklich so fest schlafe, als es aussah. 
Mein Vater trat endlich hinzu, schob aber mich mit der Hand hinter sich 
5 zurück. Dann sahen wir es: Der Mann lag in einer Blutlache; der aus einer 
Halswunde sprudelnde Quell war bereits gestockt. 
Mein Vater legte die Hände ineinander und sagte ganz leise: „Jetzt haben 
sie da den Jäger Wolf erschlagen!" 
Als ich hierauf zu weinen begann, hob mich mein Vater empor zu seiner 
10 Brust; und wie ruhig er auch scheinen wollte, ich hab' es doch wahrgenommen, 
wie sein Herz so heftig schlug. 
Dann untersuchte er den Erschlagenen — die Augen waren gebrochen, 
die Lippen fahl wie trocken Erdreich — das Leben war dahin. 
„Mit dem Weidenschneiden ist es heute nichts, sagte mein Vater, jetzt muß 
15 einer von uns Leute holen, daß sie den Wolfgang wegtragen; und der andere 
wird dieweilen dableiben müssen. Einen Toten kann man nicht allein lassen, 
so lange er nicht im Grabe ruht. Es könnte auch leicht ein Tier über ihn 
kommen. Das Beste wird sein, ich holpere hinaus in den Bandgraben zu den 
Holzknechten, und du setzest dich schön still da unter das Kreuz." 
20 Mir gab's einen Stich im Herzen. Wie konnte mir mein Vater das an¬ 
tun, mich stundenlang allein lassen im Walde bei einem Toten! Aber ich 
wußte die Wege nicht und hätte die Holzknechte nicht gesunden. 
„Freilich, Büblein, ist das ein trauriges Warten da, fuhr er fort, aber 
wachen muß wer dahier, diese christliche Lieb' müssen wir dem Wolf schon erweisen." 
25 Ich starrte auf den Toten. 
Mein Vater zog seine kleine Axt aus dem Gürtel, mit welcher er die 
Weidenruten hauen wollte, und fällte nun Äste von den Bäumen und hüllte 
den Jägersmann mit Reisig ein. Dann kniete er nieder vor der grünen Bahre 
und betete still ein Vaterunser. Und als er sich wieder erhob, sagte er: „Und 
30 jetzt, mein Knabe, tu' unserem Mitbruder den Liebesdienst und wache. Die 
Axt laß ich dir da, die halt' fest. Füchse und Raben können leicht kommen; 
andere Raubtiere weiß ich in der Gegend nicht. Bis zu den Weiden dort 
magst hingehen, aber weiter weg nicht. Ich will recht eilen; bis die Schatten 
anheben und wachsen, wird schon wer kommen!" 
35 Dann legte er für mich noch Brot unter ein Bäumchen, und dann ging 
er davon. Er ging hin quer über die Wiese, wie wir hergegangen waren, und 
verschwand in dem Dunkel des Waldes. 
Nun war ich allein auf der umwaldeten Wiese, und das milde Sonnen¬ 
licht war ausgegossen über die einsame Matte, über die glitzernden Weiden und 
40 über den stillen Reiserhügel am Waldrande. Ich wollte nicht Hinblicken auf 
die seltsame Bahre; ich schritt gegen das Weidengebüsche, aber mein Auge 
wendete sich immer wieder zurück zum roten Kreuze und zu dem, was da¬ 
neben lag.
	        
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