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Jahres. Nach christlicher Umdeutung treiben die Hexen an ihnen ihr Wesen.
Die Geister fahren noch heute im Glauben des Volkes durch die Lüfte, nicht
selten vom Teufel geführt. Daher muß man an diesen Tagen das Vieh im
Auge behalten, muß ihm besonderes Futter geben, muß vor der Schwelle seines
5 Stalles oder an der Wand das Kreuz oder den Drudenfuß befestigen oder
zeichnen. Auch die Bäume des Gartens werden mit Stroh umwunden, damit
ihnen die Geister nichts anhaben können und sie im nächsten Jahre reiche
Frucht tragen. Die Alltagsarbeit muß ferner zu dieser Zeit ruhen; in ganz
Norddeutschland herrscht noch heute der Glaube, daß der wilde Jäger dem
10 Schaden zufüge, der arbeite, und wenn an diesen Tagen das Mädchen am
Spinnrocken sitzt, dann kommt Frau Holle oder der Wod und zerzaust die
Spinnerin oder besudelt sie und den Rocken mit Pferdemist. Im altfränkischen
Gebiete kommt Ungeziefer oder Krankheit in das Haus, in dem während der
zwölf Nächte gearbeitet worden ist, oder der Wolf fährt in die Herde des
15 Besitzers. In den katholischen Ländern Oberdeutschlands geht der Hausvater
durch alle Gemächer, Ställe und Wirtschaftsgebäude seines Besitztums, besprengt
sie mit Weihwasser und durchräuchert sie mit Weihrauch, weshalb hier diese
Tage Rauch- oder Rauhnächte genannt werden. Aber auch diese Sitte, in der
alter heidnischer Aberglaube und christliche Frömmigkeit einen merkwürdigen
20 Bund eingegangen sind, ist, wie alle anderen jener Zeit, nicht auf zwölf Tage
beschränkt, sondern erstreckt sich auf den ganzen Zeitraum von St. Andreas
bis Epiphanias.
Die Weihnachtszeit ist ferner im Volksglauben die Zeit der Weissagung,
die Zeit des Zaubers; daher die Bezeichnung Lostage. Mit dem Andreas-
25 abende beginnt diese Zeit der allgemeinen Prophetie, hinter der etwas mehr
steckt als ein kindischer Scherz: es ist der naive Wunsch unseres Volkes, hinter
den Schleier der Zukunft zu schauen, ein Zug, der in erster Linie unserem
weiblichen Geschlecht eigen ist. Erwachsene, unverheiratete Mädchen sind es vor
allem, die an diesen Tagen eine Frage an das Schicksal stellen und zu erfahren
30 suchen, ob sie ihr Lebensziel, die Verheiratung, im kommenden Jahr erreichen
werden, und was für ein Mann ihnen zugedacht sei. Am meisten verbreitet
ist die Sitte des Bleigießens: aus der Form, die das geschmolzene Blei an¬
nimmt, wird die Gestalt oder die Beschäftigung des Zukünftigen erschlossen.
Hinter den Rücken geworfene Apfelschalen zeigen den Anfangsbuchstaben des
35 zukünftigen Bräutigams. In den meisten Gegenden Deutschlands findet sich
ferner das Schuh- oder Pantoffelwerfen. Die Mädchen werfen, mit dem Rücken
nach der Tür gekehrt, einen Schuh hinter sich; liegt dieser mit der Spitze nach
der Stube zu, so kommt im folgenden Jahre der Bräutigam. Die Richtung
der Schuhspitze weist dabei noch auf die Gegend, woher er kommt. Die mannig-
40 fachsten Mittel hat sich bei dieser Art des Orakels die kindliche Phantasie des
Volkes ausgedacht, um durch sie die Zukunft zu erfahren. Dabei ist man auch
auf Dinge gekommen, die von dem Gemüte unseres Volkes Zeugnis geben: 'die
Tiere, für die das Mädchen zu sorgen hat, besonders Hühner und Schweine,