Full text: Prosa für Präparandenanstalten (Teil 1, [Schülerband])

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So verstrich dem jungen Paar ein Jahr der Liebe und Glück- 
seligkeit; da waren aus zweien drei geworden: in der Wiege 
zappelte ein rundliches Büblein und schrie, dass dem Vater das 
Herz im Leibe lachte. „Jetzt,“ meinte er, „ist die Zeit gekommen, 
dass wir dié Flasche aufmachen. Was meinst du, Grete? Ein 
Iropfen von dem Jugendwasser wird dir gut tun.“ 
Die Frau war mit dem Vorschlage einverstanden, und Hans 
ging in das Gemach, wo der Zaubertrank aufbewahrt wurde. NMit 
freudezitternden Händen löste er den Verschluss, und — o wehl 
o weh! — die FPlasche entglitt ihbm, und der Trank der Jugend 10 
klols über die Dielen. Es hätte wenig gefehlt, so wäre auch Hans 
zu Boden gestürzt; so erschrocken war er über das Unglück. 
Was nun tun? Jetzt durfte die Frau beileibe nicht erfahren, was 
geschehen war; sie hätte von dem Schrecken den Tod haben 
können. Vielleicht teilt er ihr später mit, was er angerichtet s 
hatte; vielleicht findet er auch den Jungbrunnen wieder, den er 
bisher freilich vergeblich gesucht, und der Verlust lälst sich er- 
setzen. Eilig füllte er eine neue Flasche, die der ersten völlig 
gleich war, mit Brunnenwasser, und Brunnenwasser war's auch, 
was er seiner Frau einflölste. 20 
„Ha, wie das labt und stärkt!“ sagte Grete, „nimm auch 
einen Tropfen, lieber Hans!“ Und Hans gehorchte und lobte die 
Kraft des Vundertrankes, und von der Zeit an nahmen sie alle 
Sonntage, wenn es zur Kirche läutete, je einen Tropfen. Und 
Grete blühte wie eine Rose, und dem Hans strotzten alle Adern 25 
von Kraft und Gesundheit. Das Geständnis seiner Tat aber ver— 
schoh er von einem Tage zum andern; denn er hoffte im stillen, 
den Jungbrunnen endlich doch zu finden. Aber er mochte den 
WVald durchstreifen, wie er wollte: die Wiese, wo das VWaldweiblein 
wohnte, konnte er nicht entdecken. so 
So verstrichen ein paar Jahre. Zu dem kleinen Buben hatte 
sich ein Mägdlein gesellt, und Frau Grete hatte zu ihrem rund— 
lichen Kinn noch ein zweites bekommen. Sie selbst sah das 
freilich nicht; denn Spiegel waren dazumal noch nicht erfunden. 
Hans sah es wohbl, aber er hütete sich, davon zu sprechen und s5 
verdoppelte seine Liebe zu der stattlichen Frau. 
Da geschah ein Unglück, wenigstens Frau Grete hielt es für 
ein solches. Als siè eines Tages Haus und Kammer fegte, geriet der 
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2.
	        
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