Full text: Prosa für Präparandenanstalten (Teil 1, [Schülerband])

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Straße. Die obern Stockwerke traten über die untern hervor und 
verengten die schmalen Gassen so sehr, daß sie kaum den Himmel 
blicken ließen. So leichte, beengte Bauart begünstigte die ungeheuren 
Feuersbrünste, welche alle unsere Städte in schrecklicher Wiederkehr 
heimsuchten, aus denen diese sich aber auch ebensoschnell wieder erhoben. 
Die häusliche Einrichtung entsprach der Einfalt des Zeitalters. 
Der Hausrat, ohne Putz, war dem einfachsten Bedürfnis gemäß und 
roh gearbeitet. Beim Mahle aßen Mann und Frau aus einem 
Teller; ein oder zwei Becher dienten der ganzen Familie; Fackeln und 
Laternen leuchteten bei Nacht den Schmausenden; Kerzen gab es nicht. 10 
Die Glasur irdener Gefäße kam um diese Zeit erst auf. Selbst in ver— 
mögenden Häusern wohnte der Sohn des Hauses mit seiner jungen 
Frau im Hinterstübchen bei den Eltern; ohne eigne Wirtschaft, ging 
er bei ihnen zur Kost. 
Dennoch aber fand selbst schon jenes Jahrhundert gesetzliche Be⸗ 15 
schränkung der Prunkliebe und Schwelgerei nötig, die besonders bei 
Festen geübt ward. Das erste Gesetz dieser Art finden wir bei den 
fröhlichen, prassenden Wormsern im Jahre 1220. Ritter, Richter und 
Ratleute, mit Beistimmung der gesamten Gemeinde, untersagten die 
Gastmähler und Gelage, welche man im Hause des Gestorbenen zu ? 
halten pflegte, wenn dieser zu Grabe getragen war. Wer dagegen 
fehlte, sollte dreißig Schillinge der Stadtbaukasse zur Strafe zahlen. 
Die strengen Niedersachsen duldeten bei Hochzeiten nicht mehr als zwölf 
Schüsseln und drei Spielmänner der Stadt, die Breslauer (um 1290) 
dreißig Schüsseln und vier Spielleute. Gegen das Ende des dreizehnten 
Jahrhunderts setzte der alte und neue Rat zu Soest fest, daß beim 
Verlöbnis kein Wein zu trinken sei; doch durfte der Bräutigam der 
Braut ein Paar Lederschuhe und ein Paar Holzschuhe senden. Bei 
der Hochzeit waren den Reichsten fünfzig Schüsseln, aber nur fünf 
Gerichte, jede Schüssel zwölf Pfennige wert, gestattet. z0 
Unter den Künsten blühte besonders die Goldschmiedekunst. Sie 
schuf köstliche Schreine für die Leiber der Heiligen, Kelche mit heiligen 
Bildern, Kreuze mit der Gestalt des Erlösers. Auch die Kunst des 
Siegelschneidens stand in hohem Ansehen. Die Städte hatten seit 
dem Ende des 12. Jahrhunderts überall ein besonderes Wappen, 35 
welches meistens das reichverzierte Bild des Patrons der Hauptkirche 
enthielt. Lübecks Siegel zeigt bedeutsam das Schiff auf hoher Flut; 
der alte Steuermann mit spitzer Kappe leitet das Fahrzeug durch die 
Wogen; ein Jüngling am Stauwerk weist nach oben, auf den gött— 
lichen Beistand hindeutend. Cöln hatte als ältestes Wappen den 4 
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