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empor, hoch über dieses Tal der Tränen und ruhig, aber un¬
aufhaltsam geht der Flug fort durch die stillen Räume, „als flöge
sie nach Haus".
67. Das Kornfeld.
Heinr. Seidel.
Wer zwischen Kornfeldern aufgewachsen ist, der vergißt ihr
Rauschen und Wiegen und Wogen sein Leben lang nicht. Sie sind
gleichsam trockene Meere, in deren Fluten der Hase und das Reb¬
huhn untertauchen und über denen statt schreiender Möwen singende
Lerchen schweben. Hat das Kornfeld nun die Einförmigkeit und
den gleichmäßigen Wogenschlag des Meeres, so birgt es gleich die?
sem auch Reichtum und Schönheit in sich. Lauter Brot ist es, das
in ihm Wellen schlägt, und bei näherer Betrachtung wird das fort¬
währende Einerlei schlanker Ähren durch manches anmutige Zwi¬
schenspiel unterbrochen. Die Kornblume, der Rittersporn, die rote
Rade und der Feldmohn schimmern leuchtend aus dem einförmigen
Ahrenwerke hervor. Wie niedliche Wendeltreppen baut nicht die
Ackerwinde mit den weißen, rosa angehauchten Blüten, wenn sie
sich zierlich an einem Halme bis zur Ähre emporringelt! Niedrig
auf dem Boden treibt sich ein zahlreiches Geschlecht winziger Pflänz¬
chen umher, welche man erst recht zu Gesicht bekommt, wenn das
Korn abgemäht ist, eine wunderliche, allerliebste Stoppelgesellschaft.
Da sind winzige Stiefmütterchen mit feinen, blaßgelben Gesichtern,
Ackervergißmeinnichte, so klein und zierlich, daß sie als Erinnerungs¬
zeichen gar nicht mehr zu brauchen sind, außerdem allerlei Kriech¬
werk mit weißen, blauen und leuchtend roten Sternchen. Diese
bunte Herrlichkeit, welche dem Städter Ausrufe des Entzückens
entlockt, ist dem Landbebauer lästiges Unkraut, welches er gern
mit Stumpf und Stiel vertilgeu möchte. Sein größter Stolz ist
ein ganz , reines Feld, auf dem weiter nichts wächst als die körner¬
reichen Ähren und zwar möglichst dicht.
Welch ein geschäftiges, kleines Volk treibt sich zwischen den
Halmen umher! Ist nicht das Schwirren der Grillen und das
Wetzen der grünen Heuschrecke untrennbar von einem Kornfelde?
Obgleich die Natur der Heuschrecke eine große Beweglichkeit ver¬
liehen hat, so ist ihr Benehmen, wenn sie an einem Halme kriecht,
doch äußerst würdevoll und bedächtig. Plötzlich jedoch macht sie
einen ungeheuren Satz und sitzt dann auf einem andern schwanken¬
den Stengel mit einer so ernsthaften Miene da, als ob sie es gar
nicht gewesen sei. Mit diesem spaßhaften Beinkünstler ist die ver¬
drießliche Grille verwandt, welche ein kleines Erdloch bewohnt und
im Sonnenscheine gern aus ihrer Haustür guckt und Musik macht.
Besonders lebhaft geht es auf dem schmalen Feldraine zu,