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Das roiovTcov bezieht sich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie
soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften,
nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt aber roiovrcov und
nicht tovtcov; er sagt dieser und dergleichen und nicht bloß dieser, um anzuzeigen, daß ei-
unter dem Mitleid nicht bloß das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern überhaupt alle
philanthropische Empfindungen, sowie unter der Furcht nicht bloß die Unlust über ein uns
bevorstehendes Übel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust über ein
gegenwärtiges, auch die Unlust über ein vergangenes Übel, Betrübnis und Gram, verstehe.
In diesem ganzen Umfange soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt,
unser Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen und keine andere
Leidenschaften. Zwar können sich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leiden¬
schaften nützliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat
sie mit der Epopöe und Komödie gemein, insofern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer
Handlung überhaupt ist, nicht aber insofern sie Tragödie, die Nachahmung einer mitleids¬
würdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie; es ist
kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt,
die selbst daran zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht alles bessern; wenigstens nicht
jedes so vollkommen wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann, worin es
ihr keine andere Gattung gleichzutun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung.
Achtundsiebzigstes Stück.
Den 29. Januar 1768.
2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in acht nahmen, was für Leidenschaften er
eigentlich durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie in uns gereiniget haben wollte,
so war es natürlich, daß sie sich auch mit der Reinigung selbst irren mußten . .
.. Denn nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe muß
der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschöpfen will, stückweise zeigen: 1. wie das
tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische
Mitleid unsere Furcht und 4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen könne und
wirklich reinige . . Da nämlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet
als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend
aber nach unserm Philosophen sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen
welchem sie inne stehet: so muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln
soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von
der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht allein in Ansehung des Mitleids
die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auch desjenigen, welcher
zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein in Ansehung der Furcht die
Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern
auch desjenigen, den ein jedes Unglück, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste,
in Angst setzet. Gleichfalls muß das tragische Mitleid in Ansehung der Furcht dem, was
zu wenig, steuern, sowie hinwiederum die tragische Furcht in Ansehung des Mitleids. ..
Neunundsiebzigstes und achtzigstes Stück.
Den 2./5. Februar 1768.
Diesen Forderungen des Aristoteles entspreche Weißes „Richard III." in keiner Weise. Er sei ein
Scheusal, „in dem mir so völlig keinen einzigen ähnlichen Zug mit uns selbst finden, daß ich glaube,
mir könnten ihn vor unsern Augen den Martern der Hölle übergeben sehen, ohne das geringste für