Full text: Von Vulfila bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Hälfte 1, [Schülerband])

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Aber vergebens bietet der König Gold und Kostbarkeiten: niemand wagt Walther aus Furcht vor 
seiner Stärke nachzureiten. Nach vierzig Tagen erreichen die Flüchtlinge glücklich den Rhein in der 
Nähe von Worms, der Hauptstadt Günthers. Den Fergen, der sie über den Strom setzt, lohnt 
Walther mit jüngst gefangenen Fischen. Diese werden dem Küchenmeister des Königs gebracht. Als 
sie auf die Tafel kommen, fragt Günther nach ihrem Ursprünge. Aus der Beschreibung des herbei¬ 
geholten Fährmanns und Hägens freudigem Ausrufe entnimmt er, daß Walther und Hiltgunde mit 
reichen Schätzen sein Land durchreiten. Gierig fordert er trotz des Tronjers Warnung seine Helden 
auf, dem Recken die Jungfrau und die Schätze abzujagen. 
Walther indes kam frohes Muts, vom Strome sich wendend, 
Hin zum Gebirg, das Wasichenwald von alters genannt ist. 
Mächtig dehnt sich der Wald voll Lager des wilden Getieres, 
Ringsum hallend von Hundegekläff und dem Schmettern des Jagdhorns. 
5 Fernher ragen empor zwei Berge nah beieinander, 
Eng dazwischen erstreckt eine Schlucht sich, herrlich zu schauen, 
Mitten durch wildes Gezack der hochaufragenden Felsen, 
Recht zum Lager gemacht dem wilden Räuber, dazu auch 
Sprossen nährende Kräuter und üppiges Grün in dem Waldloch. 
10 Kaum erblickt' es der Held: „Dort", rief er, „wollen wir rasten. 
Dort im festen Gelaß den ermüdeten Leib zu erquicken." 
Denn seitdem der Flücht'ge verließ die avarischen Grenzen, 
Hatt er des Schlafes stärkende Ruh nicht anders gekostet, 
Als auf den Schild nur gelehnt, mit kaum geschlossenen Augen. 
i5 Nun warf von sich die kriegrische Last der tapfere Recke, 
Und ihr lehnend das Haupt in den Schoß, ermahnt er die Jungfrau: 
„Habe nun sorgsam acht, Hiltgund, und siehst du von fernher 
Dunkles Staubgewölk austvirbeln, wecke mich leis dann. 
Schmeichelnd mit zarter Hand, ja sähest du auch in gewalt'gen 
20 Scharen sich nahn die Feinde, so scheuche den Schlummer vom Auge, 
Doch nicht allzujäh. Vielteure, denn weithin erkennbar 
Ist ja rings dem Auge dein, dem klaren, die Gegend." 
Also sprach jung Walther und schloß die leuchtenden Augen. 
Aber als Günther im Sand wahrnimmt die Spuren der Wandrer, 
25 Treibt er sein schnaubendes Roß mit schärfer stachelnden Sporen. 
„Auf denn", so tönet sein Ruf durch die Luft aus jubelndem Herzen, 
„Auf denn, ihr Mannen, geeilt, noch heute sollt ihr ihn sahen, 
Nimmer soll er entfliehen mit seinen gestohlenen Schätzen!" 
Hagen jedoch entgegnet, der edle, frei dem Gebieter: 
30 „Eins nur mach ich dir kund, mein Herr und tapferster König: 
Hättest so oft als ich du Walthern gesehen im Kampfe, 
Wie er immer aufs neu anhebt mordwütend die Feldschlacht, 
Nimmer dann schien es so leicht dir, ihm abzujagen die Beute. 
Wo auch immer die Hunnen bekriegten die Völker des Erdrunds, 
35 Dort stand Walther, ein Schrecken dem Feind, den Genossen ein Wunder. 
Glaub, o König, o glaubt mir, ihr Herrn, ich weiß, wie gefährlich 
Der den Schild zu führen versteht und die Lanze zu schleudern." 
Günther jedoch verstocktes Sinns ließ nimmer sich warnen. 
Also nahten sie bald zuhauf der bergenden Felsschlucht. 
40 Aber von Bergeshöh umspähend gewahrete Hiltgund 
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