Full text: [Band 4, [Schülerband]] (Band 4, [Schülerband])

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Aber wenn eben derselbe Vater seinen uneinigen Söhnen erzählt hätte, 
wie glücklich drei Stiere, so lange sie einig waren, den Löwen von sich ab¬ 
hielten, und wie sie bald des Löwen Raub wurden, als Zwietracht unter 
sie kam, und jeder sich seine eigene Weide suchte: alsdann hätte doch der 
Vater seinen Söhnen ihr Bestes in einer Fabel gezeigt? Die Sache ist klar. 5 
Folglich ist es eben so klar, daß die Fabel nicht bloß eine allegorische 
Handlung, sondern die Erzählung einer solchen Handlung sein kann. Und 
dieses ist das erste, was ich wider die Erklärung des de la Motte zu 
erinnern habe. 
Aber was will er mit seiner Allegorie? — Ein so sremdes Wort, 10 
womit nur wenige einen bestimmten Begriff verbinden, sollte überhaupt aus 
einer guten Erklärung verbannt sein. — Und wie, wenn es hier gar nicht 
einmal an seiner Stelle stünde? Wenn es nicht wahr wäre, daß die 
Handlung der Fabel an sich selbst allegorisch sei? Und wenn sie es 
höchstens unter gewissen Umständen nur werden könnte? 15 
Quintilian lehrt: „Die Allegorie sagt das nicht, was sie nach den 
Worten zu sagen scheint, sondern etwas anderes, bisweilen selbst das Gegen¬ 
teil." Die neueren Lehrer der Rhetorik erinnern, daß dieses etwas andere 
aus etwas anderes Ähnliches einzuschränken sei, weil sonst auch jede Ironie 
eine Allegorie sein würde. Die letzteren Worte des Quintilian: „bis- 20 
weilen selbst das Gegenteil", sind ihnen hierin zwar offenbar zuwider; aber 
es mag sein. 
Die Allegorie sagt also nicht, was sie den Worten nach zu sagen scheint, 
sondern etwas Ähnliches. Und die Handlung der Fabel, wenn sie allegorisch 
sein soll, muß das auch nicht sagen, was sie zu sagen scheint, sondern nur 25 
etwas Ähnliches? 
Wir wollen sehen! — „Der.Schwächere wird gemeiniglich ein Raub 
des Mächtigeren"^ — Das ist ein allgemeiner Satz, bei welchem ich mir 
eine Reihe von Dingen gedenke, deren eines immer stärker ist als das 
andere, die sich also nach der Folge ihrer verschiedenen Stärke unter- 30 
einander aufreiben können. Eine Reihe von Dingen! Wer wird lange 
und gern den öden Begriff eines Dinges denken, ohne auf dieses oder 
jenes besondere Ding zu fallen, dessen Eigenschaften ihm ein deutliches 
Bild gewähren? Ich will also auch hier anstatt dieser Reihe von un¬ 
bestimmten Dingen eine Reihe bestimmter, wirklicher Dinge annehmen. 35 
Ich könnte mir in der Geschichte eine Reihe von Staaten oder Königen 
suchen; aber wie viele sind in der Geschichte so bewandert, daß sie, sobald 
ich meine Staaten oder Könige nur nennte, sich der Verhältnisse, in welchen 
sie gegeneinander an Größe und Macht gestanden, erinnern könnten? Ich würde 
meinen Satz nur wenigen faßlich gemacht haben, und ich möchte ihn allen 40 
so faßlich als möglich machen. Ich falle aus die Tiere; und warum sollte 
ich nicht eine Reihe von Tieren wählen dürfen, besonders wenn es allgemein 
bekannte Tiere wären? Ein Auerhahn — ein Marder — ein Fuchs — 
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