Full text: [Band 4, [Schülerband]] (Band 4, [Schülerband])

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Bei der Gelegenheit nur, bei welcher sie ihr Erfinder Stesichorus 
erzählte, ward sie es. Er erzählte sie nämlich, als die Himerenser den 
Phalaris zum obersten Befehlshaber ihrer Kriegsvölker gemacht hatten und 
ihm noch dazu eine Leibwache geben wollten. „O ihr Himerenser", rief er, 
„die ihr so fest entschlossen seid, euch an euern Feinden zu rächen; nehmt 5 
euch wohl in acht, oder es wird euch wie diesem Pferde ergehen! Den 
Zaum habt ihr euch bereits anlegen lassen, indem ihr den Phalaris zu 
euerm Heerführer mit unumschränkter Gewalt ernannt. Wollt ihr ihm nun 
gar eine Leibwache geben, wollt ihr ihn aufsitzen lassen, so ist es vollends 
um eure Freiheit getan." — Alles wird hier allegorisch! Aber einzig und 10 
allein dadurch, daß das Pferd hier nicht aus jeden Beleidigten, sondern 
auf die beleidigten Himerenser; der Hirsch nicht auf jeden Beleidiger, sondern 
auf die Feinde der Himerenser; der Mann nicht auf jeden listigen Unter¬ 
drücker, sondern aus den Phalaris; die Anlegung des Zaumes nicht auf 
jeden ersten Eingriff in die Rechte der Freiheit, sondern auf die Ernennung 15 
des Phalaris zum unumschränkten Heerführer; und das Aufsitzen endlich 
nicht aus jeden letzten tödlichen Stoß, welcher der Freiheit beigebracht wird, 
sondern aus die dem Phalaris zu bewilligende Leibwache gezogen und an¬ 
gewandt wird. 
Was folgt nun aus alledem? Dieses: Da die Fabel nur alsdann 20 
allegorisch wird, wenn ich dem erdichteten einzelnen Falle, den sie enthält, 
einen andern ähnlichen Fall, der sich wirklich zugetragen hat, entgegenstelle; 
cha sie es nicht an und für sich selbst ist, insofern sie eine allgemeine mo¬ 
ralische Lehre enthält: so gehört das Wort Allegorie gar nicht in die Er¬ 
klärung derselben. — Dieses ist das Zweite, was ich gegen die Erklärung 25 
des de la Motte zu erinnern habe. — 
Ich habe nun noch eine Kleinigkeit an der Erklärung des de la Motte 
auszusetzen. Das Wort Lehre (mstruotion) ist zu unbestimmt und all¬ 
gemein. Ist jeder Zug der Mythologie, der aus eine physische Wahrheit 
anspielt, oder in den ein tiefsinniger Baco wohl gar eine transzendentalische 30 
Lehre zu legen weiß, eine Fabel? Oder wenn der seltsame Holberg er¬ 
zählt: „Die Mutter des Teufels übergab ihm einstmals vier Ziegen, um 
sie in ihrer Abwesenheit zu bewachen. Aber diese machten ihm so viel zu 
tun, daß er sie mit aller seiner Kunst und Geschicklichkeit nicht in der Zucht 
halten konnte. Diesfalls sagte er zu seiner Mutter nach ihrer Zurückkunft: 35 
Liebe Mutter, hier sind eure Ziegen! Ich will lieber eine ganze Kompagnie 
Reiter bewachen als eine einzige Ziege! — Hat Holberg eine Fabel erzählt? 
Wenigstens ist eine Lehre in diesem Dinge. Denn er setzt selbst mit aus¬ 
drücklichen Worten dazu: „Diese Fabel zeigt, daß keine Kreatur weniger in 
Zucht zu halten ist als eine Ziege." — Eine wichtige Wahrheit! Niemand 40 
hat die Fabel schändlicher gemißhandelt als dieser Holberg! Und es mi߬ 
handelt sie jeder, der eine andere als moralische Lehre darin vorzutragen 
sich einfallen läßt.
	        
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