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163. Die Kaiserin Editha.
Editha, die Gemahlin Ottos des Großen, waltete unter dem
Volke mehr gleich einer liebenden Mutter, denn als eine Königin.
Ihre Zeitgenossen sahen in ihr eine Heilige; denn reine, wahre
und innige Frömmigkeit wohnte in ihrer Seele und gab sich in
edeln Werken christlicher Liebe kund. Oft soll ihr Gebet aus großer
Bedrängnis den König gerettet haben, oft milderte ihre Fürbitte
seinen heftigen Sinn. So stürmisch sein Zorn war, das zarte
Weib beschwichtigte ihn. Als er einst seine treffliche Mutter wegen
ihrer Mildtätigkeit schalt, und diese sich tiefgekränkt vom Hose
entfernte, rührte Editha das Herz des Gemahls, und reuig bat
er die Mutter um Verzeihung.
Auch Editha selbst soll Otto bisweilen ihre große Mildtätigkeit
verargt und ihr einmal im Zorn verboten haben, ihre Hand
ferner den Armen zu öffnen. Um sie zu prüfen, erzählt die Sage,
trat er einst an einem Feiertage selbst als Bettler vermummt an
die Kirchentür, als die Königin im Festschmuck sich nahte. Dringend
sprach er sie um ein Almosen an. Sanft verweigerte sie es;
sie habe nichts, sagte sie, als ihre Kleider. Noch dringender hielt
er sie am Mantel zurück. Nur ein Fehen hiervon, sagte er,
würde dem Armen helfen. Und sie, der Rührung nicht mehr ge¬
bietend, erlaubt ihm, einen Ärmel des kostbaren Gewandes ZU
nehmen. Als sie darauf an des Königs Tafel erscheint, trägt sie
einen anderen Mantel als am Morgen, und scheinbar erstaunt
fragt sie der König, warum sie die Tracht gewechselt. Verlegen
sucht sie nach einer Ausflucht. Da läßt der König den Mantel
holen, um sie zu beschämen; denn er trägt den Ärmel bei sich,
den sie ihn gegeben hatte. Aber siehe, ein Wunder! Als der
Mantel gebracht wurde, fanden sich beide Ärmel an ihm, und der
König bekannte, die er habe erproben wollen, habe der Himmel
erprobt gefunden.
Für wie liebreich man Editha hielt, zeigt auch eine andere
schöne Sage. Eine Hirschkuh kam einst, so heißt es, in tiefer Nacht