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senden. Doch dieser war verschwunden. Da wurde Hektor inne, daß es
Pallas Athene war, die ihn getäuscht hatte. Wohl sah er ein, daß das
Schicksal ihn jetzt fassen würde; doch dachte er nur darauf, nicht rühmlos
in den Staub zu sinken. Er zog sein gewaltiges Schwert von der Hüfte
und stürmte, in seiner Rechten es schwingend, wie ein Adler daher, der
auf ein Dämmlein herabschießt. Der Pelide wartete den Streich nicht ab;
er drang, von seinem Schilde gedeckt, vor, sein Helm nickte, die Mähne
flatterte, und sternhell strahlte sein Speer, den er grimmig in seiner
Rechten schwenkte. Sein Auge durchspähte den Leib Hektors, forschend,
wo etwa eine Wunde haften könnte. Da fand er alles blank von der
Rüstung umhüllt. Nur wo Achsel und Hals das Schlüsselbein verbindet,
erschien die Kehle, die gefährlichste Stelle für des Leibes Leben, ein
wenig entblößt. Dorthin lenkte Achilles, schnell besonnen, seinen Stoß
und durchstach ihm den Hals so mächtig, daß die Lanzenspitze zum Genicke
hinausdrang. Hektor sank nieder, aber der Speer hatte ihm nicht die
Gurgel durchschnitten, und schwer atmend, flehte der Gefallene: «Ich be¬
schwöre dich, Achilles, bei deinen Knien, bei deinen Eltern, laß meinen
Körper nicht schmachvoll bei den Schiffen der Danaer liegen; entsende
ihn nach Troja zu den Meinen!»
. Aber Achilles schüttelte sein fürchterliches Haupt und sprach: «Be¬
schwöre mich nicht bei meinen Knien und bei meinen Eltern, du Mörder
meines Freundes! Niemand soll die Hunde verscheuchen von deinem
Haupte, und wenn auch Priamus dich aufwiegen wollte mit Gold!» —
«Ich kenne dich,» stammelte der sterbende Hektor, «dein Herz ist eisern.
Aber denke an mich, wenn die Geschosse Apollos am skäischen Tore
dich treffen!» Mit dieser Weissagung verließ Hektors Seele ihren Leib
und floh zum Hades hinunter. Der grausame Achilles aher rief der
fliehenden Seele nach: «Stirb du! Mein Los empfang’ ich von Jupiter,
wenn die Götter wollen. Jetzt aber will ich meinem Freunde Patroklus
das Sühnopfer bringen.» Und nahm nun die Rüstung ab von dem Leibe
des Gemordeten, durchbohrte ihm an beiden Füßen die Sehnen zwischen
Knöchel und Fersen, durchzog sie mit Riemen und band diese am Wagen¬
sitze fest. Dann schwang er sich in den Wagen und trieb seine Rosse mit
der Geißel den Schiffen zu, den Leichnam nachschleppend. Staubgewölk
umwallte den Geschleiften, sein jüngst noch so liebliches Haupt zog mit
zerrüttetem Haar eine breite Furche durch den Sand. Von der Mauer
herab erblickte seine Mutter Hekuba das grauenvolle Schauspiel, warf
den Schleier ihres Hauptes weit von sich und sah jammernd ihrem Sohne
nach. Auch der König Priamus weinte und jammerte, und das Geheul
der Trojaner hallte durch die ganze Stadt. Der alte Vater wollte dem
Mörder seines Sohnes nach und mit ihm um die Beute kämpfen. Er warf
sich auf den Boden und rief: «Hektor, Hektor! Alle andern Söhne, die
mir der Feind erschlug, vergesse ich über dir! 0 wärest du doch in
meinen Armen gestorben!»
Ruhig saß in einem der Gemächer Andromache; sie hatte von dem
Unglück noch nichts vernommen. Sie durchwirkte eben ein schönes Purpur¬
gewand mit bunter Stickerei und rief einer Dienerin, einen großen Drei¬
fuß ans Feuer zu stellen, um ihrem Gemahl ein wärmendes Bad vorzu¬
bereiten, wenn er aus der Feldschlacht heimkehrte. Da vernahm sie vom
Turme her Geheul und Jammergeschrei. Finstere Ahnung im Herzen, rief
sie: «Weh, ihr Mägde, ich fürchte, Achilles habe meinen Gatten von der
Stadt abgeschnitten!» Mit pochendem Herzen durchstürmte sie den Palast,