Full text: [Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.]] (Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.])

4. Des Sängers fluch. 
1. Es stand in alten Zeiten ein Schloß, so hoch und her; 
Weit glänzt' es über die Lande bis an das blaue Meer, 
Und rings von duft'gen Gärten ein blütenreicher Kranz, 
Drin sprangen srische Brunnen in Regenbogenglanz. 
2. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich; 
Er saß auf seinem Throne so finster und so bleich; 
Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut, 
Und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut. 
3. Einst zog nach diesem Schlosse ein edles Sängerpaar, 
Der ein' in goldnen Locken, der andre grau von Haar; 
Der Alte mit der Harfe, der saß auf schmuckem Roß, 
Es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß. 
4. Der Alte sprach zum Jungen: „Nun sei bereit, mein Sohn! 
Denk' unsrer tiefsten Lieder, stimm' an den vollsten Ton! 
Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! 
Es gilt uns heut, zu rühren des Königs steinern Herz." 
5. Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal, 
Und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl — 
Der König furchtbar prächtig wie blut'ger Nordlichtschein, 
Die Königin süß und milde, als blickte Vollmond drein. 
6. Da schlug der Greis die Saiten, er schlug sie wundervoll. 
Daß reicher, immer reicher der Klang zum Ohre schwoll; 
Dann strömte himmlisch helle des Jünglings Stimme vor. 
Des Alten Sang dazwischen wie dumpfer Geisterchor. 
7. Sie singen von Lenz und Liebe, von sel'ger, goldner Zeit, 
Von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit; 
Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt. 
Sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt. 
8. Die Höslingsschar im Kreise verlernet jeden Spott; 
Des Königs trotz'ge Krieger, sie beugen sich vor Gott; 
Die Königin, zerflossen in Wehmut und in Lust, 
Sie wirft den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust.
	        
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