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Weg säumen riesige Agaven mit halbabgebrochenen blauen Blättern und baumartigen
Blütenspindeln. Stachelkraut aller Art, vom Staube unkenntlich, hängt an der Mauer
und bricht aus den Ritzen heißer Felswände hervor. Verläßt man die Eisenbahn mit
ihren blinden Tunnels und folgt der weißen, blendenden Landstraße auf einen höheren
Punkt, dann zeichnet sich tief unteN im Lichtglanz eine gezackte Landzunge, eine
schwimmende runde Insel, ein vorspringendes Vorgebirge. Es kommt ein kaum merk¬
licher Erquickungshauch vom Meere aufwärts, und Gruppen von Pinus maritima,
ganz leise rauschend, spenden wie in einem Tempel ihren Weihrauch.
Den Charakter des Sommers, des Naturlebens als einer unempfundenen, milden,
harmonischen Notwendigkeit, trägt auch Sitte, Körperbildung und Wohnung der
Menschen. Die Bevölkerung führt ein Gärtnerleben: Pflanzt, gräbt und schneitelt
(beschneidet), mauert Terrassen an felsigen Abhängen hin und bewegt in der Abend¬
dämmerung den Brunnenschwengel auf und ab, um die Kanäle zwischen den Beeten
und um die Stämme der Fruchtbäume herum mit Wasser zu füllen. Wie Vogelnester
drängen sich die runden Ortschaften zusammen, bald unten in der Marina im Grund
halbkreisförmiger Golfe, bald hoch oben auf den Gipfeln der Vorberge; drinnen die
Häuser mit zerbröckelnden Steintreppen, offenen Fensterhöhlen, feuchten Mauern und
dunkeln Räumen; auf den Gassen aber, an den Hecken, längs den Wegen das
Menschenleben, jedem Blick offen sich abspielend, in mannigfachen Verrichtungen,
in wechselnden Szenen, bald naiv rührend, bald lächerlich, wohl auch anstößig durch
Natürlichkeit: Männer in spitzen Hüten, ernst und braun, mitunter launig und aus¬
gelassen, immer aber maßvoll; reizende halb oder ganz nackte Buben mit verwildertem
Haar; Frauen schreitend mit dem Korbe auf dem Haupte, voll Würde und Haltung,
mit Augen ausdrucksvoll, fremdblickeud, schwarz wie die Nacht. Es sind Kinder
eines sonnigen Landes, träge und leidenschaftlich zugleich, ebenso fleißig wie sorglos.
Von ihrer Hand sind alle die Ölgärten gepflanzt und unterhalten, die diese ganze
Küste wie ein endloses, graues, schwellendes Meer bedecken.
Aber nicht bloß Gärtner sind die Bewohner dieser in lauter Buchten und Vor¬
gebirgen fortlaufenden Küste, sondern auch Fischer und Schiffer. Sie flicken und
trocknen ihre Netze, sie zimmern an den Balken halbfertiger Boote auf dem kiesigen
Ufersande. Von hier aus gingen im Mittelalter neue Argonautenfahrten an den
Bosporus und an den Pontus Euxinus. In einem dieser Flecken ward Columbus
geboren. Daß die Riviera so volkreich ist, daß an ihr die Ortschaften so ununter¬
brochen sich folgen, während allen übrigen Strandgegenden des Mittelmeers die
Furcht vor den Seeräubern das öde, verlassene Aussehen gab, das hat die Stadt
bewirkt, die im Mittelalter sich zu ihrem Haupte emporschwang und sie mit ihrer
mächtigen Flotte deckte, — das herrliche, stolze Genua, der Edelstein an diesem
weiten, kostbaren, von Spezzia bis Nizza gebogenen Küstenreif.
102. Die Insel Capri und die blaue Grotte.
Nach Ferdinand Gregorovius (1821—1891).
An einem heitern Sonntagsmorgen stiegen wir in Sorrento in die Barke
und ließen uns nach der Insel Capri hinüberrudern. Das Meer war so still wie der
Himmel und alles in weiter Ferne in träumerischen Duft verloren. Bald lag das
gesuchte Eiland in der melancholischen Wildheit seiner Berge und mit den steilen
Kalkwänden von roter Farbe vor uns, groß und ernst, klippenstarr und felszacken¬
gepanzert, fürchterlich und lieblich zugleich. Bei größerer Annäherung erblickten wir
auf den Höhen braune, zerfallene Kastelle und unten verlassene Strandschauzen. deren
Kanonenschlünde von den gelbschimmernden Blütenästen des Ginsterstrauchs überdeckt
waren.
Die Insel, bei den alten Caprea oder Capreae genannt, liegt am südlichen