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Caktusfeigen. Ihre seltsamen, afrikanischen Formen stimmen zu der Dürre der
Felsen und der tropischen Glut ihrer Farben.
Die Insel Capri enthält nur zwei Städtchen: Capri und Anacapri. Capri
ist der Hauptort des Eilandes und zählt gegen 4000 Einwohner. Die kleinen ein¬
stöckigen weißen Häuser haben ein plattes Dach, von dem aus die Bewohner in der
Abendkühle gern auf das rosenfarbige Meer hinausblicken. Das Haus umläuft ent-
weder eine Terrasse, oder es öffnet sich zu einer gewölbten Veranda, die in der
Regel von Weinreben umrankt und mit blauen Hortensien, purpurroten Nelken und
Oleanderbäumen reich verziert ist. Stößt ein Garten an das Haus, so befindet sich
an der Tür des letzteren eine Weinlaube, deren Doppelreihe weißgetünchter Säulen
das Rebendach trägt und auch dem ärmlichsten Anwesen ein festliches Aussehen gibt.
Die Capresen sind das friedfertigste Volk von der Welt, mild von Sitten und
aufgeweckt, aber bitter arm und emsig tätig. Sie sind Acker- und Weinbauer oder
Fischer, und nur die letztgenannten besitzen im allgemeinen ein Eigentum, ihre Barke
und den Fisch, den sie sangen; alle andern Bewohner sind in der Regel nur Pächter,
weil der Grundbesitz meist in den Händen der Neapolitaner liegt. Die Viehzucht Capris
ist gering. Im Herbst und im Frühling, wenn die Schwärme von Wachteln und andern
Zugvögeln aus dem Norden zurückkehren oder von Süden nach Norden wandern,
nährt die Vogeljagd die Inselbewohner. Sobald die armen Vögel sich auf den un¬
gastlichen Felsen zur Ruhe niedergelassen haben, werden sie in Scharen erschlagen
oder in Netzen gefangen. Getreide und der geringe Bedarf an Schlachtvieh wird
von Neapel bezogen. Dauernden Erwerb sichert den Capresen das Meer; die wichtigste
Erwerbsquelle aber-bildet der starke Fremdenverkehr, dessen sich Capri alljährlich in
der besseren Jahreszeit zu erfreuen hat.
Anacapri, das zweite Städtchen der Insel, liegt ziemlich weit zerstreut auf
der nach Westen abgedachten Hochfläche und hat etwa 2000 Einwohner. Wer in
Capri lebt, hört und sieht wenig oder nichts von Anacapri; so sehr hat ihn die
Natur von allem Verkehr abgeschnitten. Er sieht eben nur die an 600 Stufen hohe
Felsenstiege, die hinaufführt, und deren Beschwerlichkeit nicht zum Steigen reizt.
Es möchte wohl nicht leicht die gleiche Sonderbarkeit anzutreffen sein, daß zwei
Städte auf einem und demselben Eilande, deren Entfernung auf ebenem Boden wenig
mehr als eine Viertelstunde beträgt, so gänzlich voneinander gesondert fmd, daß
ihre Bewohner nur selten miteinander verkehren, an ihren beiderseitigen Festen selten
teilnehmen und selbst einen verschiedenen Dialekt sprechen. Erst seit 1874 sind die
Bewohner beider Städte einander etwas näher gebracht, da seit dem angegebenen
Jahr eine aussichtsreiche Fahrstraße von Capri nach Anacapri vorhanden ist. In
Anacapri gibt es einen schönen Campo Santo (Friedhof), voll von Zypressen und
Blumen; der größte Stolz der Anacapresen ist aber das „irdische Paradies". So
nennen sie den Fußboden ihrer Kirche, auf dessen Fliesen das Paradies, das Werk
eines Künstlers aus dem 17. Jahrhundert, dargestellt ist. Von den Tempeln,
welche die Griechen auf Capri ihren Göttern erbauten, ist keine Spur mehr vorhanden.
An der Nordseite der Insel liegt das Wunder Capris, die von dem Maler
und Dichter August Kopisch aus Breslau im Jahre 1826 entdeckte „Blaue
Grotte" (Grotta azzura). Sie ist die berühmteste unter den zahlreichen Höhlen,
welche die Felsenufer Capris enthalten. Die Einfahrt in die Grotte geschieht in
besonderen, höchstens drei Personen fassenden Kähnen und ist bei bewegter See nicht
angenehm, bei starkem Nord- und Ostwind unmöglich. Wer aber in das Innere
dieses 54 m langen, 30 m breiten und 12 m hohen Felsengewölbes gelangt ist,
glaubt sich in einen Feenpalast versetzt. Von der Höhlendecke und den Wänden
hängen Tropfsteingebilde herab, die von der blauen Lichtbrechung stellenweise fast so
blau erscheinen wie die Flut selbst, in der bunte Quallen auf- und niederhuschen.
Funken perlen aus der Tiefe empor gleich blitzenden Smaragden und Rubinen. Am