Full text: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminarien

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Winde die Macht ihrer Äste bewegten und Balsamgeruch das Land erfüllte, wandten 
sich die Dörner und schrieen: „Wehe dem Übermütigen! Sein Stolz braust auf wie 
die Wellen des Meeres! Verdirb ihn, Heiliger vom Himmel!" — Da nun die 
Männer kamen vom Meer und die Axt ihr an die Wurzel legten, da erhob sich ein 
Frohlocken: „Also straft der Herr die Stolzen, also demütigt er die Gewaltigen!" 
Und sie stürzte und zerschmetterte die Frohlocker, die verzettelt wurden unter dem 
Reisig. — Und sie stürzte und rief: „Ich habe gestanden, und ich werde stehen!" 
Und die Männer richteten sie auf zum Maste im Schiffe des Königs, und die 
Segel weheten vor ihm her und brachten die Schätze aus Ophir in des Königs 
Kammer. 
Hochmut kommt vor dem Fall. — Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt 
werden (Matth. 23, 12). — Gott höhet alle Güte, erniedrigt hoch Gemüte (Frei dank, 
„Bescheidenheit", um 1230). — Le höher gestiegen, se tiefer gefallen. — 
Oie rechte Demut der nur hegt, 
Der echten Ltofi im Düsen trägt. 
(v. Sallet.) 
31. Lins Begegnung. 
Marie von Ebner-Eschenbach (geb. 1830). 
Der Hochmut ging eines schönen Tages spazieren. Er trug eine 
Krone aus Seifenblasen auf dem Kopf, und sie schillerten bunt und 
prächtig im Sonnenschein. An seinem purpurfarbigen Gewände hingen 
zahllose vergoldete Glaskugeln; die Plattfüße hatte er ln Schuhe mit unge¬ 
heuren Hacken gesteckt und schritt auf ihnen so majestätisch einher wie 
ein hölzerner König in der Puppenkomödie. Sein breites Gesicht strahlte 
von Selbstzufriedenheit, seine roten, fingerdicken Lippen waren verächtlich 
verzogen; aus halbgeschlossenen Lidern blickte er um sich, als ob nichts 
da wäre, der Mühe wert, ihm einen ganzen Blick zu gönnen. 
Da kam ein Wesen ihm entgegen, bei dessen Erscheinen er stutzte. 
Ein Wesen von schlichtem Aussehen; bescheiden sein Gang, seine Haltung, 
seine Gebärde; schön sein Angesicht, auf dem ein edler Ernst und tief¬ 
innerlichster Friede sich malten. 
«Weiche mir aus!» rief der Hochmut ihm zu. 
«Gern,» erwiderte der andre lächelnd und gab Raum. 
Dennoch fühlte der Hochmut sich verletzt: «Du lächelst? wie darfst 
du es wagen, zu lächeln in meiner Gegenwart?» schnaubte er und warf 
sich wütend auf den Beleidiger. 
Dieser wehrte ihn nicht ab, regte sich nicht einmal, stand nur ruhig 
und fest. Der Hochmut aber stürzte zur Erde, und alle seine Seifenblasen 
zerplatzten, und alle seine Glaskugeln lagen in Scherben — er war an 
das Verdienst angerannt. 
V 32. Der Weinstock. 
Von J. G. v. Herder (1744-1803). 
Am Tage der Schöpfung rühmten die Bäume gegeneinander, froh¬ 
lockend ein jeglicher über sich selbst. «Mich hat der Herr gepflanzt,» 
so sprach die. erhabene Zeder; «Festigkeit und Wohlgeruch, Dauer und 
Stärke hat er in mir vereint.» — «Jehovahs Huld hat mich zum Segen 
gesetzt,» sprach der umschattete Palmbaum; «Nutzen und Schönheit hat
	        
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