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29. Der sterbende Schwan.
Von G. v. Derder.
Saͤmtliche Werke. Herausgegeben von B. Suphan. Berlin 1882. Bd. XXVIII, S. 146.
„Muß ich allein denn stumm und gesanglos sein?“ sprach seufzend der stille
Schwan zu sich selbst und badete sich im Glanz der schönsten Abendröte; „beinahe
ich allein im ganzen Reich der gefiederten Scharen. Zwar der schnatternden Gans
und der gluckenden Henne und dem krächzenden Pfau beneide ich ihre Stimmen nicht;
aber dir, o sanfte Philomele, beneide ich sie, wenn ich, wie festgehalten durch dieselbe,
10 langsamer meine Wellen ziehe und mich im Abglanz des Himmels trunken verweile.
Wie wollte ich dich singen, goldne Abendsonne! Dein schönes Licht und meine Selig—
keit singen, mich in den Spiegel deines Rosenantlitzes niedertauchen und sterben!“
Suill entzückt tauchte der Schwan nieder, und kaum hob er sich aus den Wellen wieder
empor, als eine leuchtende Gestalt, die am Ufer stand, ihn zu sich lockte. Es war der Gott
i der Abend⸗ und Morgensonne, der schöne Phöbus. „Holdes, liebliches Wesen“, sprach
er, „die Bitte ist dir gewährt, die du so oft in deiner verschwiegenen Brust nährtest und
die bir nicht eher gewaäͤhrt werden konnte.“ Kaum hatte er das Wort gesagt, so berührte
er den Schwan mit seiner Leier und stimmte auf ihr den Ton der Unsterblichen an. Ent—
zückend durchdrang der Ton den Vogel Apollos; aufgelöset und ergossen sang er in die
Saiten des Gottes der Schönheit; dankbar-froh besang er die schöne Sonne, den glän—
zenden See und sein unschuldiges, seliges Leben. Sanft, wie seine Gestalt, war das har⸗
monische Lied; lange Wellen zog er daher in süßen, entschlummernden Tönen, bis er sich —
in Elysium wiederfand, am Fuße des Apollo, in seiner wahren, himmlischen Schönheit. Der
Gesang, der ihm im Leben versagt war, war sein Schwanengesang geworden, der sanft
seine Glieder auflösen mußte; denn er hatte den Ton der Unsterblichen gehört und das
Antlitz eines Gottes gesehen. Dankbar schmiegte er sich an den Fuß Apollos und horchte
seinen göttlichen Tönen, als eben auch sein treues Weib ankam, die sich in süßem Gesange
ihm nach zu Tode geklagt. Die Göttin der Unschuld nahm beide zu ihren Lieblingen
an, das schoͤne Gespann ihres Muschelwagens, wenn sie im See der Jugend badet.
z0 Gedulde dich, stilles, hoffendes Herzl Was dir im Leben versagt ist, weil du
es nicht ertragen könntest. gibt dir der Augenblick deines Todes.
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30. Die Stimme der Tränen.
Von G. v. HDerder.
Saͤmkliche Werke. Herausgegeben von B. Suphan. Berlin 1882. Bd. XXVI, S. 336.
Drei Tage war Isaak im Herzen seines Vaters tot; denn am vierten Tag hatte
Gott fich ihn zum Opfer erkoren. Schweigend zog Abraham gen Moriah hin, in
den tiefften Gram versunken, als ihn die freundliche Stimme des Kindes weckte:
„Siehe, mein Vater, hier ist Feuer und bd wo ist aber das Lamm zum Opfer?
10 Mein Sohn“, sprach Abraham, „Gott hat ihm selbst ersehen ein Opferlamm!“
So gingen die beiden schweigend miteinander.
Und als sie kamen an die Opferstätte, und der Altar gebaut, und alles bereitet
war, ergriff der Vater seinen Sohn und legte ihn auf den Altar und faßte das
Messer in die Rechte und sah gen Himmel hinauf. Der Knabe duldete, schwieg und
æs blickie mit weinendem Auge zum Himmel hinauf.
Die stumme Träne im Auge des Vaters und des Kindes durchdrang die Wolken
und trat zum Herzen Gottes mit großem Geschrei. „Abraham!“ rief der Engel des Herrn
vom Hinimel herab, „Abraham, schone des Knaben und tue ihm nichts! Es ist genug!“
un nahm der Vater den wiedergeschenkten Sohn, das Opfer Gottes, zurück und
w hieß die schrecklich-frohe Stätte: Jehova schaut!“ Er schaut die stumme Träne im
Auge des Leidenden; er sieht des Herzens Jammer, der ängstlicher ruft als alles Geschrei.