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Warme Mairegen fallen, siegreicher tritt die Sonne hervor! Des Nachts aber
breiten die dicken grauen Nebel den schützenden Schleier über das Tagewerk des
Lenzes und halten die Frostgeister ab, die sich zerstörend aus der Höhe darauf
stürzen möchten. Die Wälder des Gebirges schütteln den Schnee aus den dunklen
Haaren, an der Buche bricht die erste Knospe hervor, das erste Kätzchen an Hasel¬
strauch und Weide, um die Quellen her leuchtet es in jungem Grün.
Da kommt der Frühling selbst das Reußtal herunter, den Kranz von Primeln
auf dem Haupte, und nun beginnt das freudige Keimen, das ftöhliche Leben in
Tönen und Farben im Himmel und auf der Erde. Von den Schneefeldern tropft
und rieselt, perlt und rinnt es, über die Felsen hinab springen tönende Quellen,
im Tale bricht der Fluß, der See die Bande, und rauschend schießt es in wilden
Wogen dahin. Auf den Bergen donnern die Gletscher und sprengen leuchtende
Eismassen ins Tal, es krachen über die Wälder herab in toller Flucht die Staub¬
lawinen, die Grundlawinen folgen nach. Und wieder weht der Föhn, um das
Werk zu vollenden. Wie heult es in den Schluchten, brausend wie Orgelton! In
dämonischer Macht schwellen die Wasser, die Seen treten weit über die Ufer hinaus,
zu Tal muß alles in Sturz und Sprung. Durch die Stille der Nacht, in welcher
der Föhn am wildesten schafft, tönt ein gewaltiges Brausen. Das ist die Zeit, von
der der Dichter singt:
„Horch, wie brauset der Sturm und der schwellende Strom in der Nacht hin!
Schaurig süßes Gefühl: lieblicher Frühling, du nahst!"
Er naht! Er ist da! Da steht er atmend in der großen Gebirgslandschaft,
und tausendstimmig begrüßt ihn jetzt das Leben im Tal und am Berge: des Hähers
kecker Ruf ertönt, der Specht ruft sein verheißungsvolles „Glück! Glück!", der Finke
schlägt vom Blütenreis, und Kuckuck, Elster, Drossel, Steinhuhn und Auerhuhn,
jedes, wie es kann, mischt seine Stimme zu dem großen Waldorchester. Schmetter¬
linge und all die kleine geflügelte, lichtfrohe Sonnenbrut flattern wonnetrunken
über die strahlenden jungen Blumen dahin, über die Huflattiche, Ranunkeln,
Primeln, Orchideen, Steinbreche und Glockenblümchen am Bache, auf der Alpwiese,
am Waldrande. Auch das stallmüde Vieh im Tal, Kuh und Ziege, brüllt und
meckert in die lichterfüllte Welt hinein, Glocken klingen, und der Mensch öffnet
seinen Mund, aus voller Kehle schickt er einen Jauchzer zu Berg, dem Lenz zum
Gruße! —
34. Än -er großen Lartause (1857).
Joseph Viktor von Scheffel, Reisebilder. Stuttgart 1887. S. 2llff.
Voreppe ist ein freundliches Gebirgsnest, überragt von hohen Gipfeln, deren
einer, der pic de Chalais, in seinen Abhängen das Dominikaner-Klösterlein Notre
Dame de Chalais birgt, das der Pater Lacordaire dort in luftiger Höhe gegründet.
Ein über mächtige Steinblöcke hinschäumender Bach mit einer, alten Brücke,
zur Rechten auf einer Felsterrasse das stattliche Pfarrhaus, dessen Garten im reichsten