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Die meisten von Annettens Dichtungen sind bereits erwähnt.
Eine erschütternde Novelle „Die Judenbuche“, die auf westfälischem
Boden spielt, war im „Morgenblatte“ erschienen und hatte allge—
meine Anerkennung gefunden. Vortreffliche Schilderungen west⸗
fälischen Lebens enthalten auch ihre kulturhistorischen Skizzen „Bil—
der aus Westfalen“ und das obengenannte Fragment „Bei uns zu
Lande auf dem Lande“. Nach ihrem Tode wurde aus ihrem Nach—
laß noch ein Bändchen lyrischer Gedichte „Letzte Gaben“ und eine
Sammlung religiöser Dichtungen „Das geistliche Jahr“ heraus—
gegeben. An dem „Geistlichen Jahr“ hat Annette von ihren frühe—
sten Jugendtagen an, seit sie auf Wunsch ihrer Großmutter ihr erstes
religiöses Gedicht niederschrieb, bis in die letzte Zeit vor ihrem Tode
gearbeitet. Freilich mit langen, oft jahrelangen Pausen. Annette
ist die gläubige Katholikin. Aber die Gedichte des „Geistlichen Jah—
res“ werden jedem, dem Protestanten wie dem Katholiken, Trost
und Erhebung bringen, jedem ringenden Menschenherzen, das sich
der eigenen Schwachheit bewußt ist und sich nach Kraft von oben
sehnt. Die ganze Innigkeit, Zartheit und Inbrunst ihres Empfin—
dens hat Annette in diesen Gedichten niedergelegt.
Ihren Ruhm als größte unserer deutschen Dichterinnen aber
verdankt Annette von Droste ihren lyrischen Gedichten weltlichen
Inhalts. Da sind es vor allem die innigen und heiligen Beziehungen
des Familienlebens, die sie mit unvergleichlicher Meisterschaft schil⸗
dert. Die Liebe der jungen Tochter zu ihrem Vater, der Stolz, das
Glück, sein Kind zu sein, wo hätte dies einen zärtlicheren und humor—
volleren Ausdruck gefunden als in dem Gedicht „Das vierzehn—
jährige Herz“? Nirgends ist die schüchterne, demutvolle Hingabe
und selbstlose Hilfsbereitschaft einer Frau für den geliebten, schwer
betroffenen Mann rührender geschildert worden als in dem Gedichte
„Die beschränkte Frau“; nirgend sind Mutterglück und Mutter—
schmerz ergreifender besungen worden als in dem Gedichte „Die
junge Mutter“. Wie wundervoll und trostvoll schließt das ernste
Gedicht: „Was bleibt“ mit den Worten:
„An meine Wange haucht' es dicht,
Und wie das Haupt ich seitwärts regte,
Da sah ich in das Angesicht
Der Frau, die meine Kindheit pflegte,
Dies Antlitz, wo Erinnerung
Und werte Gegenwart sich paaren:
„O Liebe,“ dacht' ich, „ewig jung,
Und ewig frisch bei grauen Haaren!“
Wie reich an Scherz und Ernst, an Innigkeit und Humor ist
der köstliche Zyklus: „Des alten Pfarrers Woche!“ Auch die tief
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