Full text: Poesie und Prosa für die dritte Klasse (Teil 1, [Schülerband])

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Was ich mir denke. Wo ein Bahnhof steht, da ist es aus mit der alten Behaglich¬ 
keit und patriarchalischen Zufriedenheit. Und wo kein Bahnhof steht, da ist es 
erst recht aus. Manche Dorfgemeinde, die einst für die Bahn und den Bahnhof 
keinen Baugrund um vielfachen Preis geben wollte, möchte heute denselben gerne 
dafür umsonst liefern, ja sogar noch die Geschenksteuer zahlen. Der Bahnhof ist 
also manchem wichtiger geworden als Kirche und Schule, ja fast so wichtig wie 
das Wirtshaus. 
Einst hat man die Eisenbahnbeamten im Dorf als Fremdlinge über die 
Achsel angesehen, heute sind sie kaum weniger geachtet als der Lehrer, der Arzt, 
der Amtmann, heute ist der „Stationschef" so heimisch im Dorfe, als es einst 
seligen Andenkens der Postmeister gewesen mit seinem stattlichen Einkehrwirtshaus. 
Der Bahnhof ist ja der beste Freund, Handlanger und Beschützer des Dorfes. 
Er ist — ich spreche von den Strecken größeren Verkehrs — Tag und Nacht wach. 
Wenn alles schläft und finster ist im Dorf, auf dem Bahnhof brennt noch die 
Laterne. Der fremde Wanderer pocht vergebens an die Tür des Dorfgasthofes; 
alles liegt nach des Tages Mühen in tiefem Schlafe; am Bahnhöfe findet er die 
Pforte nicht geschlossen, und im Wartesaale kann er — wenn auch nur auf harter 
Bank — rasten. 
Manche Mutter hat erst am Abend Zeit gefunden, an den fernen Sohn einen 
Brief zu schreiben, der in der Nacht abgehen soll; allein das Postamt hat sich 
längst zugetan, nur auf dem Bahnhöfe steht der Schalter noch offen und übernimmt 
den Brief, welchen der Wärter in der Nacht in den Postwagen wirft. — Plötzlich 
in tiefer Nacht ist das Unglück da, der Bahntelegraph ruft die Nachbardörfer um 
Hilfe. Und in kurzer Zeit bringt der Extrazug die Feuerwehren mit ihren Werkzeugen. 
Auch mit dem Gemütsleben des Volkes hat der Dorfbahnhof sich schon ver¬ 
wachsen. Wie mancher, der in die Fremde zieht, wird von den Seinen auf den 
Bahnhof begleitet, so betrübt, als ginge es zum Friedhof; wie mancher, der nach 
Jahr und Tag zurückkehrt aus der weiten Welt, wird mit hochzeitlichem Jubel 
hier empfangen. Kaum gibt es einen Ort, wo die Herzen banger pochen, höher 
schlagen als auf dem Bahnhöfe. In Amerika sollen Sektenpriester auf den Bahn¬ 
höfen predigen, und in der Tat, wenn schon das Wirtshaus in den Bahnhof ein¬ 
gezogen ist, warum soll es die Kirche nicht? Unser Geschlecht hat nicht mehr Zeit 
zum Stillestehen, folglich muß es im Eilen und Laufen und Fahren seinen Bissen 
Brot erhaschen und — weil der Mensch nicht allein vom Brot lebt — auch das 
Wort, welches zu besorgen vorläufig der Reisebibliothek und den — Zeitungen obliegt! 
Durch den Dorfbahnhof ist der Bauer in das moderne Leben eingeschaltet 
worden. In den Ländern des Zonentarifs kostet jetzt die Elle (die Eisenbahnelle 
heißt Kilometer) einen Kreuzer! Ein billigeres Tuch gibt's nicht. Vielleicht ist es 
manchmal auch nicht mehr wert. Allzu große Gelegenheit zum Rutschen gefährdet 
die Festständigkeit. Es kann eine Zeit kommen, da die Quecksilberigkeit der 
arbeitenden Klassen als Übelstand empfunden werden wird. Denn ganz kann und 
darf der Mensch seine abgegrenzte Heimständigkeit nicht verlieren.
	        
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