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Lettner: Goethes italienische Reise.
er endlich zu der schmerzvollen Überzeugung gelangt war, daß es für ihn
eine unbedingte Pflicht der Selbsterhaltung fei, die aufreibende, aussichtslose
Liebe zu Frau von Stein gewaltsam in sich niederzukämpfen. In diesem
Sinn ist es zu fassen, wenn er in einer sehr bedeutsamen Stelle seiner
italienischen Reiseschilderungen ausdrücklich rühmt, daß er in Italien von
einer ungeheueren Leidenschaft und Krankheit allmählich wieder zu frischem
Lebensgenuß genese, und wenn er kurz vor seiner Rückkehr, am 25. Januar
1788, in einem Briefe an den Herzog sagt, es sei ihm ziemlich gelungen,
sich von den physisch-moralischen Übeln zu heilen, die ihn in Deutschland
gequält und zuletzt unbrauchbar gemacht hätten; dabei trug er sich freilich
mit der später schwer enttäuschten Hoffnung, der alte süße Seelenbund werde
auch unter der veränderten Form herzlichster Freundschaft und Verehrung
ungetrübt fortbestehen können.
Italien lvühlte Goethe zum Reiseziel, weil ihm von Jugend auf der
Plan einer italienischen Reise am Herzen gelegen und weil er gerade auf
dem jetzigen Stand seiner Bildung, da er sich soeben aus den Wirren der
Sturm- und Drangperiode sittlich und künstlerisch zum Ideal schönheitsvoller
Begrenzung hinaufgeklärt hatte, es als dringendstes Bedürfnis empfinden
mußte, hell und frisch aus der Quelle zu schöpfen und sich in das Wesen
und die Gesetze antiker Kunstschönheit voll und ganz einzuleben.
Die Studien über bildende Kunst, insbesondere über die bildende
Kunst der Alten, standen daher unter seinen Reisezwecken von Hause
aus entschieden im Vordergrund. Mit unsäglichem Fleiß und Eifer
ging er ihnen nach, wissenschaftlich und ausübend. Und in jenem Briefe
vom 25. Januar 1788, in welchem er seinem fürstlichen Freunde über die
Ergebnisse der Reise Rechenschaft gibt, bezeichnet er als schönstes Ergebnis,
daß ihm die Absicht, seinen heißen Durst nach wahrer Kunst zu stillen,
durchaus geglückt sei.
Es ist von höchster Wichtigkeit, die Art und den Erfolg dieser Studien
genau zu verfolgen. Nicht nur, daß die bildende Kunst fortan sein ganzes
Leben hindurch eines der wärmsten Anliegen Goethes blieb. Die italienische
Reise ist für Goethes Bildungsgang besonders darum so durchgreifend
geworden, weil diese Studien sogleich auch auf Fortbildung und Läuterung
seines dichterischen Formgefühls, ja auf die Fortbildung und Befreiung seines
ganzen inneren Menschen entscheidend zurückwirkten.
In Straßburg war Goethe mit jugendlichster Begeisterung für die
Macht und Pracht der langverkannten mittelalterlich-deutschen Kunst ein¬
getreten. Goethe erzählt zwar in Wahrheit und Dichtung, wie tief er auf
seiner Rückreise von Straßburg nach Frankfurt sich im Antikensaal zu Mann¬
heim von der Schönheit antiker Bildwerke ergriffen fühlte, ja, wie durch den