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wollen, was du wirken kannst, das ist gegen die Natur der Dinge und der Gesellschaft.
Sieh, wie der Stein im Wasser seine Kreise bildet, und lerne von ihm auf deine
Brüder wirken. Er wirket zuerst auf die nächsten Wasserteile, bildet zuerst einen
kleinen Kreis um sich, und dann durch Beihilfe des ersten einen zweiten größeren,
rund hernach durch Beihilfe des zweiten einen dritten, noch größeren, und so fort.
Nach diesem Gesetze ist es, um nur ein Beispiel zu nennen, Pflicht des Gemahls,
des Vaters, des Hausvaters, zunächst bei seinem Weibe, bei seinen Kindern, bei
seinen Hausgenossen wahres Gut- und Wohlsein zu fördern; denn dies ist der nächste
Kreis seiner Wirksamkeit, der um ihn her gezogen ist. Und wäre der Ehemann,
rv der Vater, der Hausvater ein Regent der Völker, so bliebe es doch ein unver¬
letzliches Gesetz für ihn, zuerst in sich und zunächst in den Seinen, in seinem Aofe,
Ordnung handzuhaben, weil doch nur durch die Kanäle, die von ihm und seinem
Hofe ausgehen, Segen und Wohlsein in sein Land ausfließen kann. Denn was
nützten dem Lande auch die weisesten Gesetze, wenn die Beispiele des Königs und
"des Hofes zur Übertretung derselben ermunterten? Was nützte Ordnung in ge¬
druckten Gesetzen, wenn Unordnungen am Hofe mehr zur Nachahmung der Hand¬
lungen, als zur Befolgung der Befehle spornten?
So gewiß aber die Pflicht, auf das Nächste zu wirken, immer sein mag, so
gemein ist leider die Torheit, Pflichten erfüllen wollen, die keine sind. und die
»o Pflichten, die wahre Pflichten für uns sind, unter dem ehrvollen Vorwände irgend
eines wichtigeren Dienstes, den wir zu tun hätten, unerfüllt lassen. Man kann
Männer über das Verderbnis der Welt klagen hören, die doch das Verderben von sich
selbst oder gewiß von ihren Weibern, ihren Kindern, ihren Hausgenossen ungehindert
in die Welt ausgehen lasien. Lieber! was verstopfest du die Quelle nicht, bei der
»b du ruhig sitzest? Man kann Gelehrte von patriotischen, ins Große laufenden An¬
stalten zur Bildung der Menschen in die Tiefe, Breite und Länge räsonieren hören,
die doch zu Erziehung ihrer eigenen Kinder selbst keine Anstalt machen. Es soll
auch öffentliche Lehrer geben, die über der Bemühung, diese große Welt zu erleuchten,
nicht Zeit finden, die kleine Welt ihrer Zöglinge vor dem Bösen zu bewahren, zu
*> deren Bildung sie sich doch als besoldete Väter der Lehranstalten, Akademieen und
Universitäten, anheischig gemacht haben. Und so begehen hier die Menschen den
alten Fehler, den sie in dem Geschäfte des Frohwerdens begehen. Sie greifen die
Sache am unrechten Ende an. Sie wollen zuerst die Freude haben, und etwa
hernach gut werden. So wollen sie auch zuerst in der Ferne wirken, und etwa
-L hernach im nächsten Gebiete. Ein schönes Bild dieser Täuschung gibt uns die Be¬
mühung der Großen, die im Drange, ferne Länder zu erobern, die nahen, die sie
schon besitzen, ungebildet lassen.
Diese Täuschung ist nie gefährlicher, als wenn sie sich mit dem Schilde des
Eifers für das gemeine Beste decket, und wie leicht ist es ihr, sich hinter diesem Schilde
40 zu verstecken! Diese Täuschung wird noch unüberwindlicher, wenn sie sich unter
dem schönen Namen „Weltbürgerliebe" auf den Altar setzet und sich die Anbetung
der Leichtgläubigen zollen läßt. Diese Täuschung wird endlich desto gemeinschäd¬
licher, je allgemeiner; denn dadurch, daß z. B. unter hundert Feldbewohnern jeder
ein Feld anbauen wollte, das nicht seiner Pflege anverttaut wäre, und das nächste,
« das seiner Arbeit angewiesen wäre, ungebaut ließe, würde die Verwilderung der
Felder nur noch allgemeiner und schrecklicher werden. Es können also keine anderen
Grundgesetze in Förderung alles Gut- und Wohlseins gelten, als diese: Dringe
darauf, daß zuerst in dir und hernach in den Deinen, in den nächsten Subjekten
deiner Wirksamkeit, wahres Gut- und Wohlsein hergestellt werde.
Mit dem Eifer, zuerst in sich und zunächst in seinem unmittelbarm Kreise
Gutes zu fördern, streitet es aber schon gar nicht, jeden Fremden, der in deinen
Wirkungskreis eintritt und durch sein Bedürfnis und Zutrauen dein Nächster wird,