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3. „ Wrr waren in Tagen, die nicht mehr
sind,
Gar treue Gespielen, wie Kind und Kind,
Und hatten uns lieb und hatten uns gern;
r Die Tage der Kindheit sie liegen uns fern.
4. „Du schütteltest machtvoll, eh' wir's
geglaubt,
Dein mähnenumwogtes, königlich Haupt;
Ich wuchs heran, du siehst es, ich bin
io Das Kind nicht mehr mit kindischem Sinn.
5. „O, wär' ich das Kind noch und bliebe
bei dir,
Mein starkes, getreues, mein redliches Tier!
Ich aber muß folgen, sie taten's mir an,
i5 Hinaus in die Fremde dem fremden Mann.
6. „ Es fiel ihm ein, daß schön ich sei,
Ich wurde gefreit, es ist nun vorbei; —
Der Kranz im Haare, mein guter Gesell,
Und nicht vor Tränen die Blicke mehr hell.
ao 7. „Verstehst du mich ganz- Schau'st
grimmig dazu;
Ich bin ja gefaßt, sei ruhig auch du!
Dort seh' ich ihn kommen, dem folgen ich
muß,
L- So geb' ich denn, Freund, dir den letzten Kuß."
8. Und wie ihn die Lippe des Mädchens
berührt,
Da hat man den Zwinger erzittern gespürt;
Und wie er am Gitter den Jüngling erschaut,
Erfaßt Entsetzen die bangende Braut.
9. Erstellt an die Tür sich des Zwingers
zur Wacht,
Er schwingt den Schweif, er brüllet mit Macht;
Sie, flehend, gebietend und drohend, begehrt
Hinaus; er im Zorn den Ausgang wehrt.
10. Und draußen erhebt sich verworren
Geschrei,
Der Jüngling ruft: „Bringt Waffen herbei!
Ich schieß' ihn nieder, ich treff' ihn gut!"
Aufbrüllt der Gereizte, schäumend vor Wut-
11. Die Unselige wagt's, sich der Türe
zu nahn,
Da fällt er verwandelt die Herrin an;
Die schöne Gestalt, ein gräßlicher Naub,
Liegt blutig, zerrissen, entstellt in dem Staub-
12. Und wie er vergossen das teure Blut,
Er legt sich zur Leiche mit finsterem Mut,
Er liegt so versunken in Trauer und Schmerz.
Bis tödlich die Kugel ihn trifft in das
Herz.
181. Attalus und Meno.
Von F. Krummacher.
Parabeln. Es»en 1840. Bd. II, 8. 194.
In der Gegend von Antiochia in Syrien lebten zwei Familien von alters
so her in bitterer Feindschaft, welche die Söhne von den Eltern ererbt hattest-
Die beiden Hausväter Attalus und Meno fügten einander jedes Herzeleid
zu, wie sie vermochten, und ihre Erbitterung wuchs mit jeglichem Tage.
Meno aber hatte einen Sklaven, der war ein Jünger des Herrn ustd
wandelte würdiglich dem Evangelio und war getreu in allen Dingen, also
#6 dass Meno ihn liebgewann und über sein ganzes Hauswesen setzte. Ustd
in allem, was Silas — so hiess der Sklave — tat, war Gott mit ihm ustd
segnete das Haus seines Herrn um seinetwillen. Deshalb unterredete Mest°
sich oft mit seinem Hausvogt, und dieser gewann sein Herz also, dass er
gläubig wurde und sich taufen liess auf den Namen des Herrn,
io Von da an wurde Meno ein ganz anderer Mensch denn zuvor und
redete kein böses Wort von Attalus, seinem Feinde, obwohl dieser ihn noch
mehr hasste und verfolgte und ihm täglich neues Herzeleid zufügte.
Durch solche Sanftmut ward Attalus noch mehr erbittert, und er
dingte böse Menschen, die mussten Menos Garten verwüsten in der Nacht
*6 und seine schönsten Bäume zerstören, die er selbst gepflanzt hatte und be¬
sonders wert hielt.
Da traten Menos Freunde zu ihm und sprachen: „Wirst du das ust"
gerochen lassen, so wird er noch Schlimmeres beginnen“.
Meno aber antwortete ihnen und sprach: „Die Bosheit ist bei Nacht
w geschehen, er wird sie leugnen. Mir aber dient es zur Übung in der Ge¬
duld. Hat mich doch früherhin derselbe Geist erfüllt.“