Full text: Für Seminarvorbereitungsanstalten und Fortbildungsschulen (Bd. 1 = Vorstufe, [Schülerband])

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Von weißen Flaumen zart und rein, 
Und träumt von mildem Sonnenschein. 
Drum findet's nicht der schlimme Wind, 
Schaut er sich auch die Augen blind; 
ö Gar ärgerlich er da sich dreht, 
Brummt mürrisch in den Bart und geht. 
Das Keimchen schlummert lange noch. 
Zum Wecken ist es endlich doch 
Jetzt Zeit, so denkt in ihrem Sinn 
io Die liebe Sonn', tritt leise hin 
Ans Bettchen, wo das Keimchen ruht, 
— Sie ist dem Keimchen gar zu gut — 
Und sachte, daß sie's nicht erschrecke, 
Zieht sie jetzt weg die Flaumendecke 
i» Und schaut es an mit Hellen Blicken 
Und lächelt — möcht' ans Herz es drücken! 
Dann küßt sie's — da wird allgemach 
Das kleine, liebe Keimchen wach, 
Reibt sich die Augen hurtig aus 
Und schaut aus seinem Bett heraus, 
Und gähnt und dehnt und strecket sich, — 
Das scheint ihm alles wunderlich. 
Die Brüder rings sind auch erwacht, 
Darob die Sonne fröhlich lacht; — 
Das Keimchen sieht's in stiller Ruh' 
Und lächelt auch der Sonne zu. 
Die Sonne mit dem goldnen Haar 
Sorgt für das Keimchen immerdar; 
Hat's Durst, so gibt die gute Frau 
Ihm gleich zu trinken frischen Tau; — 
So wächst's und wird ein großer Mann, 
Zieht schöne, goldne Kleider an 
Und winkt dem Bauer fröhlich zu 
Und ruft: „Holmich! Bring mich zur Ruh'! 
223. Preis der Tanne. (1822.) 
Von I. Lerner. 
30 Dichtungen. Stuttgart i8*i. Bd. I, S. 10. 
1. Jüngsthin hört' ich, wie die Rebe 
Mit der Tanne sprach und schalt: 
„ Stolze, himmelwärts dich hebe, 
Dennoch bleibst du starr und kalt! 
25 2. „ Spend' auch ich nur kargen Schatten 
Wegemüden, gleich wie du; 
Führet doch mein Saft die Matten, 
O wie leicht! der Heimat zu. 
3. „Und im Herbste — welche Wonne 
so Bring' ich in des Menschen Hans! 
Schaff' ihm eine neue Sonne, 
Wann die alte löschet aus." 
4. So sich brüstend, sprach die Rebe; 
Doch die Tanne blieb nicht stumm, 
Säuselnd sprach sie: „Gerne gebe 
Ich dir, Rebe, Preis und Ruhm. 
5. „Eines doch ist mir beschieden: 
Mehr zu laben als dein Wein, 
Lebensmüde; — welchen Frieden 
Schließen meine Bretter ein!" 
6. Ob die Rebe sich gefangen 
Gab der Tanne, weiß ich nicht; 
Doch sie schwieg, — und Tränen hangen 
Sah ich ihr am Auge licht. 
224. Das Spinnlein. 
Von p. Hebel. 
55 Alemannische Gedichte. Herausgegeben und erläutert von 
E. Gotzing er. Aarau 1873. ©.129. 
1. Nei, lüget doch das Spinnli ü, 
Wie's zarti Fäde zwirne cha! 
Büs Gvatter, meinsch, chüsch's au ne so? 
«o De wirsch mer's, traui, blrbe lo. 
Es macht's so subtil und so nett, 
I wott nit, aßi 's z'hasple hätt. 
2. Wo het's di frni Riste gnö, 
By wellem Meister hechle lö? 
*6 Meinsch, wemme's wüßt, wol mengi Frau, 
Sie wär so gscheit, und holti au! 
Jez lüg mer, wie's st Füeßli setzt 
Und d'Ermel streift und d'Finger netzt! 
3. Es ziet e lange Faden üs, 
oo Q8 spinnt e Bruck ans Nöchbershvs, 
Es baut e Landströß in der Luft, 
(Um 1801.) 
Übertragen von R. Reinkck. 
Alemannische Gedichte. JnS Hochdeutsche übertragen. 
Leipzig 18öS. S. 159. 
1. Nun seht mir doch das Spinnlein an, 
Wie zart's die Fäden zwirnen kann! 
Du glaubst, du könnt'st es auch so fein? 
Gevatter, nein! das läßt du sein! — 
Es macht es so subtil und nett; 
Schlimm wär's, wenn ich die Arbeit hätt'! 
2. Wo mag solch Flachs zu haben sein? 
Wer hechelt ihn so zart und fein? 
Wußt' manche Frau, wo sie ihn kriegt', 
Sie holt' ihn sich und wär' vergnügt. 
Nun schau, wie es sein Füßlein setzt, 
Die Ärmel streift, die Finger netzt! 
3. Jetzt zieht es lange Fäden aus, 
Spinnt eine Brück' zum Nachbarhaus, 
Baut eine Landstraß' in der Luft,
	        
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