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„Mißtrauet den süßen Worten des Grafen!" rief er. „Hätte er uns seinen Zorn ent¬
boten, ich würde nicht erschrocken sein: aber da er uns seine Huld entbietet, erschrecke ich. Der
Graf schenkt uns seinen Hirsch nicht umsonst. Wir bedürfen des Grafen nicht; sein Vetter, der
Braunselser Otto, und Landgraf Hermann von Hessen sind uns besiere Bundes-
s genoffen. Graf Johann aber bedarf unser; und hat er uns erst am kleinen Finger, so hat er uns
auch ganz. Thaffo, Thaffo! du schaffst uns großes Leid, nicht weil dujenenSolmsischen Hirsch ins
Wetzlarer Feld, sondern weil du diesen Hirsch in die Wetzlarer Ratsküche jagtest. Ich beschwöre
euch, werte Freunde, lehnet das Geschenk freundlich ab, fordert unser Recht, und gebt dem Grafen
das seine. Schicket den Hirsch zurück und behaltet den Jäger, bis der Graf des Dienstmanns
10 Übermut nach der Ordnung sühnen will." Aber er blieb allein mit seinem Argwohn. Das
Geschenk ward mit Dankesworten angenommen und paffend erwidert, der Dienstmann freigegeben,
und Graf Johann von Solms war bald, was er gewollt, der erklärte Freund und Beistand des
Wetzlarer Rates. — Als der Hirsch bei festlichem Mahle verzehrt und der Bacharacher getrunken
wurde, blieb Meister Richwin schmollend zu Hause, und Thaffo bekam nicht einen Knochen von dein
Wilde, welches er doch den Ratsherren in die Küche gejagt.
sDies war geschehen im Jahre 1372. Die Folgezeit beweist, daß Meister Richwin mit sein^
Warnung recht gehabt. Graf Johann von Solms besiegt (1373s an der Spitze der Bürger vo»
Wetzlar den Sternerbund, bemächtigt sich (1375s der Stadt und lädt die Ratsherren auf das
haus ein. Alle, durch des Grafen kluge Verstellung in Sicherheit gewiegt, erscheinen, nur Richw>"
so nicht; die Rücksicht auf seinen Hund hält ihn zu Hause zurück. Und das ist seine Rettung.
Erschienenen werden gefangen genommen und hingerichtet, die früher vertriebenen Ratsherren an
den patrizischen Geschlechtern in Amt und Würden wieder eingesetzt. Nur dem Meister Richwin w
es geglückt, mit seiner Familie in das Gebiet des Landgrafen von Heffen zu flüchten.j
Obgleich Meister Richwin den besten Teil seines Besitztums in Feindeshand halte lässig
s5 müssen, konnte er doch mit dem Geretteten später in Frankfurt am Main als Bürger sich cin!
kaufen und ein neues Geschäft beginnen. Wenn er nun dort in wieder gesichertem Behagen
seiner Hausfrau saß, den treuen, bereits ergrauenden Thaffo zu Füßen, dann sprach er wohl man^
mal mit einem wehmütigen Blick auf den stummen Ratsherrn: „Gott verzeih' mir's, daß l<*
Kinderzucht und Hundezucht vergleiche! Die Zucht der Kinder lohnt uns Gott, und wir erwarb
30 nicht, daß ein Kind den Sold all unserer Mühen uns gleich bar bei Heller und Pfennig heimzahlt
Aber dieser Hund hat zum Dank für meine Zucht mich selber erzogen und zum Entgelt
tausend richtig empfangene, gesalzene Prügel mir endlich Anno 1375 gar das Leben gerettet
Niemals ward ein Schulmeister so rasch und vollgültig gelohnt, wie ich durch meinen und ^
Reichsstadt Wetzlar stummen Ratsh errn."
K 240. Die Sonne bringt es an den Tag. (1837.)
Bon A. v. Chamisso.
Werke. Berlin 1856. Bd. III. S. 258.
1. Gemächlich in der Werkstatt saß
Zum Frühtrunk Meister Nikolas;
*o Die junge Hausfrau schenkt' ihm ein,
Es war im heitern Sonnenschein. —
Die Sonne bringt es an den Tag.
3. Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
Malt zitternde Kringeln an die Wand;
46 Und wie den Schein er ins Auge faßt,
So spricht er für sich, indem er erblaßt:
„Du bringst es doch nicht an den Tag".
3. «Wer nicht? was nicht?" die Frau
fragt gleich,
rv «Was stierst du so an? Was wirst du so
bleich?" —
Und er darauf: „Sei still, nur still;
Jch's doch nicht sagen kann, noch will.
Die Sonne bringt's nicht an den Tag."
4. Die Frau nur dringender forscht ^
fragt,
Mit Schmeicheln ihn und Hadern plagt,
Mit süßem und mit bitterm Wort,
Sie fragt und plagt ihn fort und fort: ^
«Was bringt die Sonne nicht an den Tag ^
5. „Nein, nimmermehr! — «Du M
es mir noch." }r
„Ich sag' es nicht." — «Du sagst es
doch." —
Da ward zuletzt er müd' und schwach