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Sohn des Priamus, der seit Hektors Tode die Stütze des Hauses und Volkes
war. Bei der Annäherung des Menelaus flüchtete Deiphobus in die Gänge des
Palastes. Menelaus aber ereilte ihn und stieß ihm den Speer in den Nacken.
„Stirb!" rief er mit donnernder Stimme. „Hätte doch meine Lanze den Unheilstifter,
»den Paris, also getroffen; nun ist dieser schon längst geschlachtet!" So sprechend,
stieß Menelaus den Leichnam auf die Seite und ging hin, den Palast zu durchforschen;
denn er wünschte die Helena, seine Gemahlin, zu sehen. Diese hielt sich, vor dein
Zorne ihres rechtmäßigen Gatten zitternd, in einem dunklen Winkel des Hauses ver¬
borgen, und erst spät gelang eS ihm, sie zu entdecken. Bei ihrem ersten Anblicke
lv trieb es ihn, sie zu ermorden; aber BenuS hatte sie mit holder Schönheit geschmückt,
stieß ihm das Schwert aus der Hand und verscheuchte den Grimm aus seiner Brust-
Es war ihm unmöglich, bei ihrem Anblick das Schwert aufs neue zu erheben. Da
hörte er die den Palast durchtobenden Griechen, und es erschien ihm sein Bruder
Agamemnon, der, plötzlich hinter ihm stehend, die Hand auf seine Schultern legte und
>5 ihm zurief: „Laß ab, lieber Bruder Menelaus! Es geziemt sich nicht, daß du dein
eheliches Weib, um welches wir so viele Leiden erduldet haben, erschlagest. Lastet
doch die Schuld weniger auf Helena, wie mich dünkt, als auf Paris, welcher st
schnöde das Gastrecht gebrochen. Dieser aber, sein ganzes Geschlecht, sein ganzes
Volk sind ja jetzt bestraft und vernichtet." So sprach Agamemnon, und Menelaus
*o gehorchte ihm.
Lange noch dauerte der Brand und das Gemetzel. Die Flammensäule Trosts
stieg hoch in den Äther hinauf und verkündete den Untergang der Stadt den Be¬
wohnern der Inseln und den Schiffen, die hin und her das Meer besegelten.
262. Die Weser. (1838.)
^ Von JF. v. Dingelstedt.
Gedichte. Stuttgart und Tübingen 1848. S. 5.
1. Ich kenne einen deutschen Strom,
Der ist mir wert und lieb vor allen,
Umwölbt von ernster Eichen Dom,
« Umgrünt von kühlen Buchenhallen;
Den hat nicht, wie den großen Rhein,
Der Alpe dunkler Geist beschworen,
Er ward aus friedlichem Verein
Verwandter Ströme still geboren.
« 3. So taucht die Weser kindlich auf,
Von Hügeln traulich eingeschlossen,
Und kommt in träumerischem Lauf
Durch Reben nicht, durch Korn geflossen;
So windet sie mit treuem Fuß
40 Zum deutschen Meere sich hernieder
Und spiegelt mit geschwätzigem Gruß
Der Ufer sanften Frieden wieder.
3. Doch hat sie in der Zeiten Flug
Gar manche große Mär erfahren,
Und die bescheidene Woge trug
Viel Herrliches zu fernen Jahren:
Sie sah in ihrer Wälder Schoß
Des Adlers Siegerflügel wanken
Und vor urdeutscher Arme Stoß
ao Der ewigen Roma Säulen schwanken.
4. Und als mit fester Eisenhand
Held Karl den deutschen Scepter führte,
Da war es, wo im Weserland
Sich manche Stimme mächtig rührte,
Da hörte man des Kreuzes Ruf
Mit hellem Klang an den Gestaden,
Und sah der Frankenrosse Huf
Sich in den nordischen Wellen baden.
5. So meldet sie dir manchen Traurn
Aus ihrer Vorzeit grauen Tagen
Und sieht dabei des Lebens Baum
Stets frisch an ihren Ufern ragen;
Es glänzen in der lichten Flut
Der Klöster, Schlöffer, Burgen Trümmer
Des Mondes und der Sonne Glut,
Der Türme und der Segel Schimmer
6. Und meerwärts durch ihr Felsentor,
Durch immer wechselnde Gefilde
Strömt sie die Wellen leicht hervor
Wie dichterische Traumgebilde;
In ihren Tiefen klar und rein
Hörst du es seltsam wehn und rauschen
Und kannst bei stillem Abendschein
Der Nixe Wanderlied belauschen.