Full text: Für Seminarvorbereitungsanstalten und Fortbildungsschulen (Bd. 1 = Vorstufe, [Schülerband])

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Fuß gehen; du hast jüngere Beine!" Da saßen beide auf und ritten eine Strecke. 
Kommt ein dritter Wandersmann und sagt: „Was ist das für ein Unverstand! 
Zwei Kerle auf einem schwachen Tiere! Sollte man nicht einen Stock nehmen und 
euch beide hinabjagen?" Da stiegen beide ab und gingen selbdritt zu Fuß, rechts 
b und links der Vater und Sohn und in der Mitte der Esel. Kommt ein vierter 
Wandersmann und sagt: „Ihr seid drei kuriose Gesellen. Jst's nicht genug, wen» 
zwei zu Fuß gehen? Geht's nicht leichter, wenn einer von euch reitet?" Da band 
der Vater dem Esel die vorderen Beine zusammen, und der Sohn band ihm die 
Hinteren Beine zusammen, zogen einen starken Baumpfahl durch, der an der Straße 
10 stand, und trugen den Esel auf der Achsel heim. 
So weit kann's kommen, wenn man es allen Leuten will recht machen. 
300. Des Sängers Fluch. (4. Dezember 1814.) 
Von L. Ahland. 
Gedichte und Dramen. Suttgart 1868. Bd. H, S. 301 
15 1. ES stand in alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr, 
Weit glänzt' es über die Lande bis an das blaue Meer; 
Und rings von duft'gen Gärten ein blütenreicher Kranz, 
Drin sprangen frische Brunnen in Regenbogenglanz. 
2. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich; 
40 Er saß auf seinem Throne so finster und so bleich: 
Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut, 
Und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut. 
3. Einst zog nach diesem Schlosse ein edles Sängerpaar, 
Der ein' in goldnen Locken, der andre grau von Haar; 
45 Der Alte mit der Harfe, der saß auf schmuckem Roß, 
Es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß. 
4. Der Alte sprach zum Jungen: „Nun sei bereit, mein Sohn! 
Denk unsrer tiefsten Lieder, stimm an den vollsten Ton! 
Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! 
»<> Es gilt uns heut' zu rühren des Königs steinern Herz." 
5. Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal, 
Und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl: 
Der König furchtbar prächtig wie blut'ger Nordlichtschein, 
Die Königin süß und milde, als blickte Vollmond drein. 
36 6. Da schlug der Greis die Saiten: er schlug sie wundervoll, 
Daß reicher, immer reicher der Klang zum Ohre schwoll; 
Dann strömte himmlisch helle des Jünglings Stimme vor, 
Des Alten Sang dazwischen wie dumpfer Geisterchor. 
7. Sie singen von Lenz und Liebe, von sel'ger goldner Zeit, 
" Von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit, 
Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt, 
Sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt. 
8. Die Höflingsschar im Kreise verlernet jeden Spott, 
Des Königs trotz'ge Krieger, sie beugen sich vor Gott; 
Die Königin, zerflossen in Wehmut und in Lust, 
Sie wirst den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust. 
9. „Ihr habt mein Volk verführet: verlockt ihr nun mein Weib?" 
Der König schreit es wütend, er bebt am ganzen Leib; 
Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt, 
Draus statt der goldnen Lieder ein Blutstrahl hoch aufspringt. 
so
	        
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