Full text: Für Seminarvorbereitungsanstalten und Fortbildungsschulen (Bd. 1 = Vorstufe, [Schülerband])

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und fragte: „Wie kannst du das Gestirn des Tages bewundern und siehest 
es nicht?" 
Da antwortete der Blinde und sprach: „Ebendarum, mein Freund. Seit das 
Licht meiner Augen verdunkelt, und der Glanz der Sonne mir verschlossen ward, 
5 wohnt sie in meiner Seele. Jedes Gefühl ihrer Nähe lässet sie in mir selbst aus- 
gehen und ihren Glanz in meinem Inneren leuchten. Ihr aber schauet sie nur, 
wie alles, was ihr täglich sehet, mit leiblichem Auge!" 
341. WaUerrsteirr. (1790.) 
Von JF. v. Schiller. 
10 Sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe von A. Boedere. Stuttgart 1887. 21 Vin, S- 1t» 
Wallenstein hatte über eine Armee von beinahe hunderttausend Mann zu 
bieten, von denen er angebetet wurde, als das Urteil der Absetzung ihm verkündW 
werden sollte. Die meisten Offiziere waren seine Geschöpfe, seine Winke Aussprüche 
des Schicksals für den gemeinen Soldaten. Grenzenlos war sein Ehrgeiz, unbeug- 
i5 sam sein Stolz, sein gebieterischer Geist nicht fähig, eine Kränkung ungerochen ^ 
erdulden. Ein Augenblick sollte ihn jetzt von der Fülle der Gewalt in das Nichts 
des Privatstandes herunterstürzen Allgemein war das Murren der Armee, 
als die Absetzung ihres Feldherrn bekannt wurde, und der beste Teil seiner Offiziere 
trat sogleich aus dem kaiserlichen Dienst. Viele folgten ihm auf seine Güter nach 
,o Böhmen und Mähren; andere fesselte er durch beträchtliche Pensionen, um sich ihrer 
bei Gelegenheit sogleich bedienen zu können. 
Sein Plan war nichts weniger als Ruhe, da er in die Stille des Privatstandes 
zurücktrat. Der Pomp eines Königs umgab ihn in dieser Einsamkeit und schieU 
dem Urteilsspruch seiner Erniedrigung hohnzusprechen. Sechs Pforten führte^ 
»s zu dem Palaste, den er in Prag bewohnte, und hundert Häuser mußten nieder¬ 
gerissen werden, um dem Schloßhofe Raum zu machen. Ähnliche Paläste wurden 
auf seinen übrigen zahlreichen Gütern erbaut. Kavaliere aus den edelsten Häusern 
wetteiferten um die Ehre, ihn zu bedienen, und man sah kaiserliche Kammerherren 
den goldenen Schlüssel zurückgeben, um bei Wallenstein eben dieses Amt zu bekleideN- 
Er hielt sechzig Pagen, die von den trefflichsten Meistern unterrichtet wurden; 
Vorzimmer wurde stets durch fünfzig Trabanten bewacht. Seine gewöhnliche Tam 
war nie unter hundert Gängen, sein Haushofmeister eine vornehme Standesperson- 
Reifte er über Land, so wurde ihm Geräte und Gefolge auf hundert sechs- um 
vierspännigen Wagen nachgefahren, in sechzig Karossen mit fünfzig Handpferden 
rs folgte ihm sein Hof. Die Pracht der Livreen, der Glanz der Equipage und ^ 
Schmuck der Zimmer war dem übrigen Aufwande gemäß. Sechs Barone und ebenso¬ 
viel Ritter mußten beständig seine Person umgeben, um jeden Wink zu vom 
ziehen,— zwölf Patrouillen die Runde um seinen Palast machen, um jeden Lärm 
zuhalten. Sein immer arbeitender Kopf brauchte Stille; kein Gerassel der WageU 
*o durfte seiner Wohnung nahekommen, und die Straßen wurden nicht selten durch 
Ketten gesperrt. Stumm, wie die Zugänge zu ihm, war auch sein Umgang 
Finster, verschlossen, unergründlich, sparte er seine Worte mehr als seine Gescheut 
und das wenige, was er sprach, wurde mit einem widrigen Tone ausgestoßen. ~ 
lachte niemals, und den Verführungen der Sinne widerstand die Kälte seines Blutes' 
t5 Immer geschäftig und von großen Entwürfen bewegt, entsagte er allen leeren Zer¬ 
streuungen, wodurch andere das kostbare Leben vergeuden. Einen durch ganz Europ." 
ausgebreiteten Briefwechsel besorgte er selbst, die meisten Aufsätze schrieb er n*1 
eigener Hand nieder, um der Verschwiegenheit anderer sowenig als möglich anzu¬ 
vertrauen. Er war von großer Statur und hager, gelblicher Gesichtsfarbe, rötliches 
so kurzen Haaren, kleinen, aber funkelnden Augen. Ein furchtbarer, zurückschreckende 
Ernst saß auf seiner Stirne, und nur das Übermaß seiner Belohnungen konnte dl 
zitternde Schar seiner Diener festhalten.
	        
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