Full text: [Band 2, [Schülerband]] (Band 2, [Schülerband])

15. 
15. 
Die Birke. 
Die Birke. 
Dein Froste und dem Sturme, dem Blitze und selbst der Fäulnis 
trotzend, im Sumpfmeer wie im dürren Sande gedeihend, bedarf die 
zierliche, schlanke, zartgegliederte Birke nur einer Spanne Erde, ihre 
Wurzeln hineinzusenken. Auf den norddeutschen Grasebenen steht 
sie in zerstreuten Gruppen und Hainen entlang; weite, schimmernde 
Waldstrecken füllt sie in den Tieftälern von Norwegen, und da selbst, 
wo ewiger Schnee den Kiölengrat umhüllt, klammert sie sich an die 
stiefmütterliche Scholle. Dort an der letzten Marke der Vegetation 
beugt sie sich über das Gestein wie der trauernde Genius der Pflanzenwelt, 
in der Hand die umgestürzte Fakel. Das grünende Leben sinkt wieder 
in den Schoß zurück, dem es sich, schwer kämpfend, entrungen. Es 
ist die Zwergbirke, deren Samen allein im Winter den Lemming und das 
weiße Rebhuhn nährt. Vielleicht erstreckte sich ehedem das Reich 
der Birke weiter hinauf als heute. Auf Island wenigstens stand vor 
alters die hohe Betula alba im dichten Walde von dem Meeresufer bis 
zum Fuße der Gebirge und warf so ein wärmendes Gewand um die da¬ 
mals fruchtbare Insel, von dem jetzt kaum die Fetzen in Busch und 
Strauch zu sehen sind. Noch geht die Sage von Kohlenbrennern, die 
hier ihre Meiler bauten, und das Grabscheit braucht oft nur einige Stiche 
in die breitgelagerte Torfschicht zu tun, um auf Stämme von mehr als 
einem halben Fuß Stärke zu stoßen. 
Man darf die Birke einen weiblichen Charakter nennen. In leicht 
geschwungener, oft anmutig geschlängelter Linie steigt der schlanke, 
gerundete Stamm hinauf, nach oben schwach gebogen, doch mit ge¬ 
schmeidiger Härte der Gewalt der Elemente widerstrebend. Grau be¬ 
mooste Furchen zerreißen wohl unten die glatte, atlasartige Rinde, die 
aus dem Blättergrün hervorleuchtet, 
„als wäre dran aus heller Nacht 
das Mondlicht blieben hangen.“ 
Kein mächtiger Ast tritt aus dem zähen Holz, vielmehr fällt rings¬ 
um ein zierliches Reisernetz in langen Flechten herab, das sich kaskaden¬ 
artig und immer lockerer aufbaut, bis die Krone wie in einem Feder¬ 
büschel endet. Da ist auch nicht Raum für des kleinsten Vogels Nest, 
so luftig steht dies Zweigwerk da. Und nun dieser dämmernde Laub¬ 
schein darüber hin, dieser zarte, durchsichtige Schleier, der immer 
schwebend und schwirrend die Glieder um wehte—ist es nicht, als schmiege 
er sich um eine Waldnymphe ? 
An der hangenden Birke ist es die gesenkte Gestalt und das rast¬ 
lose Gezitter der langgestielten Blätter, was die träumerische, selbst 
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