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ist es, bei Hermann die kraftvolle Gediegenheit seines ganzen Wesens mit
einem gewissen äußeren Ungeschick zn paaren, damit ihn die Liebe desto
sichtbarer umschaffen könne! Es ist eins von den ungelenken Herzen, die
keinen Ausweg für ihren Reichtum wissen und denen die Berührung ent-
5 gegenkommender Zärtlichkeit nur mühsam ihren ganzen Wert ablockt. Aber
da er nun das für ihn bestimmte Weib in einem Blicke erkannt hat; da
sein tiefes, inniges Gefühl wie ein Quell ans dem harten Felsen hervor¬
bricht: welche männliche Selbstbeherrschung, welchen bescheidenen Edelmut
beweist er in seinem Betragen gegen Dorothea! Er wird ihr dadurch
10 beinahe gleich, da sie ihm sonst an Gewandtheit und Anmut, an heller
Einsicht und besonders an heldenmäßiger Seelenstärke merklich überlegen ist.
Ein wunderbar großes Wesen, unerschütterlich fest in sich bestimmt, handelt
sie immer liebevoll, und sie liebt nur handelnd. Ihre Unerschrockenheit in all¬
gemeiner und eigener Bedrängnis, selbst die gesunde körperliche Kraft, womit
15 sie die Bürden des Lebens auf sich nimmt, könnte uns ihre zartere Weiblichkeit
aus den Augen rücken, mischte sich nicht dem Jüngling gegenüber das
leise Spiel sorgloser, selbstbewußter Liebenswürdigkeit mit ein, und entrisse
nicht ein reizbares Gefühl, durch vermeinten Mangel an Schonung über¬
wältigt, ihr noch zuletzt die holdesten Geständnisse. Hinreißend edel ist ihr,
20 Andenken an den ersten Geliebten, dessen herrliches Dasein ein hoher
Gedanke der Aufopferung verzehrt hat. Seine Gestalt, obgleich in der
Ferne gehalten, ragt noch am Schluß unter allen Mithandelnden hervor,
und so wächst mit der Steigerung schöner und großer Naturen das Gedicht
selbst gleich einem stillen, mächtigen Strome.
25 Mit eben der Kraft und Weisheit, womit der Dichter bei der Wahl
oder vielmehr Erschaffung des Darzustellenden dafür gesorgt hat, daß es der
schönen Entfaltung so würdig, so rein menschlich und doch zugleich so wahr
und eigentümlich wie möglich wäre, hat er den anmaßungslosen Stil
der Behandlung dem Werke nicht von außen mit schmückender Willkür
30 angelegt, sondern als notwendige Hülle des Gedankens von innen hervor¬
gebildet. Es scheint, als hätte er, nachdem er das Wesen des homerischen
Epos, abgesondert von allen Zufälligkeiten, erforscht, den göttlichen Alten
ganz von sich entfernt und gleichsam vergessen. Wie überhaupt leidende
Annahme leicht, freie Aneignung und Nachfolge aber eine Prüfung der
35 Selbständigkeit ist, so wäre es auch keine so schwierige Aufgabe, einen
modernen Gegenstand ganz in homerische Manieren zu kleiden. Allein es
fragt sich, wie es bei dieser Anhänglichkeit an den Buchstaben um den
Geist stehn würde. Alle Form hat nur durch den ihr innewohnenden
Sinn Gültigkeit, und bei veränderter Beschaffenheit des Stoffes muß der
40 Geist durch anders modifizierte Mittel sich auszudrücken suchen. Dergleichen
äußerliche Abweichungen sind alsdann wahre Übereinstimmung. Homers
Rhapsodien waren ursprünglich bestimmt, gesungen, und zwar ans dem