Full text: Für Seminarvorbereitungsanstalten und Fortbildungsschulen (Bd. 1 = Vorstufe, [Schülerband])

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leine, ihm von seinem sorgsamen Oheim ersparte Summe noch das einzige sei, was ihm zur Fort⸗ 
etzung seines Studierens geblieben war. Der Herbst war schon weit vorgerlickt; der Winter meldete 
sich an mit einzelnem Schneegestöber; der arme Kourad wagle es nicht, von seinem wenigen Gelde 
ich Holz zu kaufen, welches in jener Universitätsstadt in ziemlich hohem Preise steht; da erbarmte 
ich seiner sein Wirt, ein wackerer, alter Handwerksmann, den sein Geschäft als Schmied fast den 
ganzen Tag außer dem Zimmer, in der Werkstätte aufhielt, indem er ihn einlud, in seiner wohl— 
durchheizten Stube so viel zu lesen und zu schreiben, als er wolle 
Das Winterhalbjahr ging jetzt zu Ende, in welchem unser Konrad viel gearbeitet und wenig 
gegessen hatte; denn seine tägliche Nahrung seit des Onkels Tode war, außer am Sonntage, wo 
er gewöhnlich von seinem Häuswirt zum Mittagsessen eingeladen wurde, fast nichts anderes ge— 
wesen als ri Brot und Obst. Bei all seiner Sparsamkeit sah er sein ererbtes Geld fast 
shoͤn zur Falfte aufgegangen; sollte er jeht einige Kleidungsstücke, vornamlich Stiefel, sich kausen, 
deren er noͤthig bedurfte, so blieb ihm kaum noch für die nächsten Monate das Unentbehrlichste 
UüÜbrig. Und seine Universitätsstudien waren noch lange nicht beendigt, er hatte noch volle ändert— 
halb Jahre Vorlesungen zu hören. Dennoch behielt er guten Muth, denn er hatte frühe gelernt, 
auf Gott vertrauen. 
In dem kleinen Städtlein, wo er geboren war, lebte noch sein Pathe, der Lehrer an der 
Schule des Ortes, ein Mann, den Gott reichlich mit Kindern gesegnet, mit anderen äußeren Glücks— 
Mütern aber nur wenig versehen hatte. Von diesem war Konrad schon mehrmals durch einen 
dandelsmann, der die Jahrmärkte der Universitätsstadt bezog, eingeladen worden, er solle ihn doch 
tinmal während der Ferien besuchen. Der Jüngling, dem jede Aeußerung von Liebe gegen ihn, 
den Verlassenen, so wohl that, beschloß jetzt, der Einladung zu folgen. Ein wenig Wäsche und 
in gutes Buch auf den Weg, das war alles, was er zu tragen hatte; schon am nächsten Tage 
hegen Abend traf er bei seinem Pathen ein, der ihn mit herzlich väterlicher Liebe bei sich aufnahm. 
„Warum“, so fragte der alte Freund seines väterlichen Hauses eines Tages Konrad, 
„warum entschließen Sie sich nicht zu einer Reise nach Holland? Sie wissen, daß Ihr Großvater, 
Wgleich er auch von Geburt ein Hesse war, in Amsterdam gewohnt hat, und ich weiß es aus 
Ihres seligen Vaters Munde, daß dort noch sehr wohlhabende Verwandte von Ihnen leben. Was 
wäre es für einen von diesen, Ihnen das Wenige zu geben, was sie zur Vollendung Ihrer Studien 
noch brauchen! Uebrigens wüßte ich auch eine Gelegenheit, durch welche Sie in diesen Tagen mit 
wenig Kosten, ja vielleicht ganz umsonst, auf einem Rheinschiffe bis nach Rotterdam fahren könnten. 
Denn es geht ein Fahrzeug, mit Korn beladen, dahin ab, dessen Schiffer mir wohlbekannt ist.“ 
Der Jüngling zögerte nicht lange, auf diesen Vorschlag einzugehen. Sein Pathe, der Schul— 
lehrer, fuhr ihn selber auf einem kleinen Bauernwagen bis an den Rhein, sprach dort mit dem 
Schiffer, versorgte den jungen Reisenden mit einigen Lebensmitteln, mit einem alten Mantel 
unr ent etwas Geld und wünschte ihm mit herzlichem Händedruck Glück und Segen zu 
mer Reise. 
Das schwerbeladene Schiff machte freilich keine großen Tagereisen, doch ließen das schöne 
Frühlingswetter und der Anblick des lieblichen Rheinthales unserem Konrad die Zeit nicht lang 
werden, welche dieser auch noch überdies zum Lesen und zum Schreiben auf dem langsam dahin— 
Neitenden Fahrzeuge gut benutzte. Endlich war Rotterdam erreicht, der Jüngling verabschiedete 
sich von dem Schiffer, welcher für die Fahrt und das Schlafen in der Kajüte durchaus keine Be— 
zahlung annahm und zu diesen Wohlthaten auch die noch hinzufügte, daß er ihm einen Platz in 
einem wohlfeilen Fahrzeuge aushandelte, welches schon am nächsten Tage nach Amsterdam fuhr. 
Da war nun Konrad auf einmal in der großen, fremden Stadt, wo jeder mit sich selber 
und seinen Geschäften so viel zu thun hat, daß keiner auf den armen Fremdling zu achten vermag. 
Linen alten Bürgersmann, der mit ihm von Rotterdam hergefahren war, und der Deutsch ver— 
and, hatte er nach einem anständigen und nicht zu theuern Wirtshaus gefragt. Der Bürger 
wies ihin beim gemeinschaftlichen Hindurchgehen durch eine der nächsten Straßen ein Gasthaus an, 
das zwar nicht zu den vornehmsten der Stadt, doch auch nicht zu den geringeren gehörte. Hier 
etzte sich der Jüngling in eine Ecke des Zimmers, ohne daß aufangs jemand auf ihn merkte. 
Endlich, als er ein Nachtessen begehrte, brachte man ihm viel mehr, als er gewünscht hatte und 
bedurfle; das Nachtlager, das man ihm anwies, war so reinlich und so bequem, wie er seit langer 
Zeit lelnes gehabt hatte; der Jüngling schlief hinter seinen ihm ungewohnten Vorhängen bis lief 
in den lichten Morgen hinein. Er war sehr beschämt, da er ierkte, wie spät es sei; zu der Be— 
schämung kam aber bald auch noch der Schrecken, als er im Wirtshaus nach seiner Rechnung 
ragte, und eine solche vernahm, durch welche der Rest seines Reisegeldes, welches ohnehin auf der 
langwierigen Rheinfahrt durch das, was der Lebensunterhalt ihm kostete, sehr abgenoinmen hatte, 
ganz verzehrt wurde. In tiefen Gedanken ergriff er sein kleines Reisebündlein und den 
anderstab. 
Schon in Rotterdam, als noch der gutwillige Schiffer sein Rathgeber und Führer war, hatte 
tr sich nach den noch in Amsterdam lebenden Verwandten seiner seligen Mutter erkundigt und er— 
sahren, daß sein mütterlicher Oheim, ein älterer Slesbruder seiner Mutter, zwar längst gestorben, 
daß aber dessen Sohn am Leben und ein sehr vermögender Kaufmann sei, welcher noch überdies 
eine deutsche Gemahlin und fast lauter deutsche Comptoirdiener habe. Auch die Wohnung seines 
Kehru. Kriebitzsch, Deutsches Lesebuch. J. 
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