Full text: Poetische Blumenlese oder Grundlagen für den Unterricht in der Poetik und Litteraturgeschichte

VI. Balladen und Romanzen. 
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11. Denn Bank an Bank ge— 
dränget sitzen 
Es brechen fast der Bühne 
Stützen — 
Herbeigeströmt von fern und nah, 
Der Griechen Völker wartend da. 
Dumpfbrausend wie des Meeres Wo⸗— 
gen, 
Von Menschen wimmelnd wächst der 
Bau 
In weiter stets geschweiftem Bogen 
Hinauf bis in des Himmels Blau. 
12. Wer zählt die Völker, nennt 
die Namen, 
Die gastlich hier zusammenkamen? 
Von Theseus' Stadt, von Aulis' 
Strand, 
Von Phocis, vom Spartanerland, 
Von Asiens entlegner Küste, 
Von allen Inseln kamen sie 
Und horchen von dem Schaugerüste 
Des Chores grauser Melodie, 
13. Der streng und ernst, nach 
alter Sitte, 
Mit langsam abgemessnem Schritte 
Hervortritt aus dem Hintergrund, 
Umwandelnd des Theaters Rund. 
So schreiten keine ird'schen Weiber, 
Die zeugete kein sterblich Haus! 
Es steigt das Riesenmaß der Leiber 
Hoch über Menschliches hinaus. 
14. Ein schwarzer Mantel schlägt 
die Lenden, 
Sie schwingen in entfleischten Händen 
Der Fackel düsterrote Glut; 
In ihren Wangen fließt kein Blut. 
Und wo die Haare lieblich flattern, 
Um Menschenstirnen freundlich wehn, 
Da sieht man Schlangen hier und 
Naͤttern 
Die giftgeschwollnen Bäuche blähn. 
15. Und schauerlich, gedreht im 
Kreise, 
Beginnen sie des Hymnus Weise, 
Der durch das Herz zerreißend dringt, 
Die Bande um den Frevler schlingt. 
Besinnungraubend, herzbethörend 
Schallt der Erinnyen Gesang; 
Er schallt, des Hörers Mark verzehrend, 
Und duldet nicht der Leier Klang: 
16. „Wohl dem, der frei von 
Schuld und Fehle 
Bewahrt die kindlich reine Seele! 
Ihm dürfen wir nicht rächend nahn, 
Er wandelt frei des Lebens Bahn. 
Doch wehe, wehe, wer verstohlen 
Des Mordes schwere That vollbracht! 
Wir heften uns an seine Sohlen, 
Das surchtbare Geschlecht der Nacht. 
— 
17. „Und glaubt er fliehend zu 
entspringen, 
Geflügelt sind wir da, die Schlingen 
Ihm werfend um den flücht'gen Fuß, 
Daß er zu Boden fallen muß. 
So jagen wir ihn ohn' Ermatten, 
Versöhnen kann uns keine Reu, 
Ihn fort und fort bis zu den Schatten, 
Und geben ihn auch dort nicht frei.“ 
18. So singend tanzen sie den 
Reigen, 
Und Stille, wie des Todes Schweigen, 
Liegt überm ganzen Hause schwer, 
Als ob die Gottheit nahe wär'. 
Und feierlich, nach alter Sitte, 
Umwandelnd des Theaters Rund, 
Mit langsam abgemessnem Schritte 
Verschwinden sie im Hintergrund. 
19. Und zwischen Trug und Wahr— 
heit schwebet 
Noch zweifelnd jede Brust und bebet 
Und huldiget der furchtbar'n Macht, 
Die richtend im Verborgnen wacht, 
Die unerforschlich, unergründet 
Des Schicksals dunkeln Knäuel flicht, 
Dem tliefen Herzen sich verkündet, 
Doch fliehet vor dem Sonnenlicht. 
20. Da hört man auf den höchsten 
Stufen 
Auf einmal eine Stimme rufen: 
„Sieh da, sieh da, Timotheus, 
Die Kraniche des Ibykus!“ 
Und finster plötzlich wird der Himmel, 
Und über dem Theater hin 
Sieht man in schwärzlichem Gewimmel 
Ein Kranichheer vorüberziehn. 
— Der teure 
21. „Des Ibykus!“ 
Name 
Rührt jede Brust mit neuem Grame 
Leineweber, Voet. Blumenlese. 
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