Full text: Poetische Blumenlese oder Grundlagen für den Unterricht in der Poetik und Litteraturgeschichte

XIV. Fremde Formen 
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5. Und Städte sahn voll Trotz in deine Welle, 
Wo unterm Krummstab Bürgerfreiheit sproß 
Und Füll' und Kunst, und wo dann morgenhelle 
Die neue Zeit ihr Kinderaug' erschloß. 
Denn war's zu Mainz nicht, wo in stiller Zelle 
Ein andrer Dädalus die Flügel goß, 
Die stark das Wort in alle Winde tragen? 
Ward nicht zu Worms des Glaubens Schlacht geschlagen? 
6. Und heut, welch reich Gewühl umbraust noch heut 
Die Rebenufer, wo vom breiten Riffe 
Die Feste droht und weit im Thal zerstreut 
Die Essen rastlos sprühn! Mit grellem Pfiffe 
Durchkeucht das Dampfgespann des Doms Geläut, 
Und durch die Fluten wandeln Feuerschiffe, 
Wie schwarze Riesenschwäne; Flaggen winken, 
Und Winzerjubel schallt, und Römer blinken. 
7. Gebrochen sind die Burgen. Ihre Zeit 
Ging aus. Doch sißt an ihrer Türme Scharten 
Die Sage harfend noch, die Wundermaid, 
Und lallt im Traum von Kriemhilds Rosengarten, 
Vom Drachenstein und von der Nonne Leid. 
Und fließt das Mondlicht um die Felsenwarten, 
Da singt die Lorelei, und aus dem Dunkel 
Der grünen Wasser glimmt des Horts Gefunkel. 
8. Gruß dir, mein Rhein! Wie leicht bei dir einst flossen 
Die Lieder mir, die jedes Tags Gewinn! 
Mein Sternbild stand im Aufgang; noch im Sprossen 
Wie Laub um Pfingsten grünte frisch mein Sinn. 
Gruß euch, die ihr mir damals war't Genossen 
In Leben und Gesang! — Wo seid ihr hin? 
Ach, aus einander weit seit jenen Tagen, 
Zu weit hat uns der Kampf der Zeit geschlagen. 
a) Gliederung:; 1. Einleitung (Str. ): Anrede an den Rhein. 2. Behaup⸗ 
tung: Der Rhein ist deutschen Lebens Bild und Zeuge: a) Beweis des Satzes daß 
der Rhein des deutschen Reiches Bild und Zeuge (Str. 23). h) Beweis des 
Satzes, daß der Rhein das Bild und der Zeuge deutschen Lebens ist (SStr. 451) 
3. Schluß (Str. 8): Warum der Rhein dem Dichter so lieb und teuer ist. — 
d) Grundgedanke: Der Rhein ist das Bild und der Zeuge deutschen Lebens. 
463. Natur und Kunst. 
Ein Sonett. 
Johann Wolfgang v. Goethe. 
1. Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen 
Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden; 
Der Widerwille ist auch mir verschwunden, 
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. 
2. Es gilt wol nur ein redliches Bemühen! 
Und wenn wir erst, in abgemess'nen Stunden, 
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, 
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
	        
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