II. Parabeln.
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Vom Abend heimlich bis zum Morgen,
Es nagt vom Morgen bis zum Abend
Die weiße, wurzeluntergrabend;
Und zwischen diesem Graus und Wust
Lockt dich die Beere Sinnenlust.
Daß du Kamel, die Lebensnot,
Daß du im Grund den Drachen Tod,
Daß du die Mäuse Tag und Nacht
Vergissest und auf nichts hast acht,
Als daß du recht viel Beerlein haschest,
Aus Grabes Brunnenritzen naschest.
— —
a) Quelle der Parabel, deren Stoff sehr alt ist und wahrscheinlich aus dem
Morgenlande stammt, ist die parabolische Erzählung in Rudolfs von er
Boatlaam und Josaphat“; aber die Art der Behnlun des Gegenstandes durch
Rückert zeigt dessen vollste poetische Originalität. — b) Gliederung: 1. Ursachen,
welche den Mann in die gefährliche Lage im Brunnen vwrehen 2. hiderun dieser
Lage mit den sich fleigernden Gefahren. 3. Verhalten des Mannes den ihm von allen
Selen drohenden Gefahren gegenüber. 4. Die Deutung der Parabel. — c) Grund-
gedanke: „Gieb dich den Genüssen des Sbens nicht in dem Maße hin, daß du
darber deine Bestimmung und dein Schicksal aus dem Augc verlierst, sondern halte
dich stets geiaht und bereit auf das Los, das unerwartet jeden Augenblick dich aus
dem Leben abfordern kann.“ Linnig.)
43. Salomo und der Sümann.
Friedrich Ruckert.
1. Im Feld der König Salomon
Schlägt unterm Himmel auf den
Thron;
Da sieht er einen Sämann schreiten,
Der Koͤrner wirft nach allen Seiten.
2. „Was machst du da?“ der König
richt;
„Der Boden hier trägt Ernte nicht.
Laß ab vom thörichten Beginnen!
Du wirst die Aussaat nicht ge—
winnen.“
3. Der Sämann, seinen Arm ge—
senkt,
Unschlüssig steht er still und denkt;
Danu fährt er fort, ihn rüstig hebend,
Dem weisen König Antwort gebend:
4. „Ich habe nichts als dieses Feld;
Geackert hab' ich's und bestellt;
Was soll ich weitre Rechnung pflegen?
Das Korn von mir, von Gott der
Segen!“
Grundgedanke: Thu das Deine, Gott thut das Seine. — „Wir pflügen,
und wir freuen den Samen auf das Land; doch Wachstum und Gedeihen steht in
des Höchsten Hand.“ (Claudius.)
44. Die beiden Ähren.
Agnes Franz.
Am St. Johannistage ging
Der Vater und sein Kind ins Freie.
Gar freundlich war des Himmels Bläue,
Und an dem Kornfeld hing
Der Morgentau
Noch hell und lau.
Leicht nickten an dem grünen Rain
Mohnblumen bei der Lüfte Weh'n,
Gleich Purpurglut im Sonnenschein;
Und frisch im fröhlichen Gedeih'n
Sah man die schlanken Ahren stehn.
Der Knabe hüpfte auf und nieder,
Wo eine schoͤne Blume stand,
Und kehrte bald mit voller Hand