Full text: Poetische Blumenlese oder Grundlagen für den Unterricht in der Poetik und Litteraturgeschichte

Erste Abteilung. Didaktische Poesie. 
Und frohem Blick zum Vater wieder 
„Sieh, Väterchen, was ich gepflückt; 
Zwei schöne, ganz verschied'ne Ahren! 
Stolz ragt die eine, und gebückt 
Scheint diese sich herabzukehren 
Waͤrum sind sie nicht gleich geschmückt: 
Willst, Väterchen, du mir's erklären?“ 
Drauf sprach der Vater freundlich 
mild: 
„Schau her, mein Kind! — Es will 
im stillen 
Die Wahrheit gern in zartem Bild 
Die goldnen Lehren uns enthüllen! 
Sieh, jene, die sich stolz erhoben, 
Ist selten innern Segens schwer; 
Ihr prahlend Haupt ist hohl und leer! 
Der Schnitter wird nur diese loben, 
Die still in Demut hingeneigt 
Des innern Wertes Fülle zeigt. 
So traue nie des Hochmuts Schimmer! 
Er deckt nur inn're Armut zu. 
Der frommen Demut gleiche du! 
So still sie blüht, sie täuschet nimmer.“ 
Und leise schrieb der Knabe sich 
Ins Herz des Vaters goldne Lehren; 
Johannistag gar bald verstrich, 
Doch blieb ihm tief und inniglich 
Das Gleichnis von den beiden Ahren. 
Grundgedanke: „Trägt jemand gar zu hoch den Kopf, so ist er wohl ein 
eitler Tropf.“ 
45. Der treue Epheu. 
Agnes Franz. 
Ein hoher Baum, vom Sturm ge— 
roffen, 
Mit mattem, halbverwelktem Laub, 
Die wunde Bruft dem Tode offen, 
Bog seinen Wipfel in den Staub. 
Da fühlt er liebend sich umstricket 
Von eines zarten Armes Haft; 
Ein Epheu ist's, den er erblicket, 
In frischem Grün und junger Kraft. 
„Was willst du hier?“ — so ruft 
betroffen 
Der tiefgebeugte, edle Baum; 
„Kein Schutz ist ferner hier zu hoffen, 
Nur für ein Grab ist hier noch 
Raum! 
Einst hob ich freudig meine Aste 
Empor zu goldner Himmelsluft, 
Es schwirrten, buhlten tausend Gäste 
Um meiner Blüten süßen Duft. 
Die Vögel flogen auf und nieder 
In meinem gastlich grünen Haus. 
Es schallten meines Ruhmes Lieder 
Weit in die Frühlingswelt hinaus 
Jetzt ist mein Haupt in Staub be— 
graben, 
Verwelkt ist meiner Schönheit Zier; 
Die mich im Glück vergöttert haben, 
Sie alle flogen weg von hier. 
Was kann ich auch dem Freund noch 
bieten? 
Wer teilet gern so tiefen Fall? 
Die frohe Biene geht nach Blüten, 
Nach Schatten geht die Nachtigall. 
So laß auch du den Tiefgebeugten 
Hinweg vom Anblick seiner Not! 
Was willst du hier? — Sein Mark 
ist tot, 
Versiegt die Quellen, die dich säugten!“ 
„Was ich hier will?“ sprach tief betrübet 
Der Epheu, zärtlich angeschmiegt; 
„Trennt Unglück je, was sich geliebet, 
Hat Treue nicht den Tod besiegt? 
Laß sie nur fliehn, die falschen Freunde, 
Die Glück und Ehre dir verband! 
Was heil'ger Trieb dir einst vereinte, 
Reicht übers Grab dir noch die Hand. 
Dich hatt' ich liebend auserkoren, 
Für dich erblüht' ich, ward ich groß. 
Jedweder Keim, den ich geboren, 
Er ward zum Arm, der dich umschloß; 
Mein Leben war mit dir verschlungen, 
Du trugst zur Höhe mich hinan. 
Ein jeder Strahl, der mich durch— 
drungen, 
Macht mich dir liebend unterthan. 
Was sollt' ich noch um Leben werben, 
Da grausam dich der Sturm verheert? 
Nein, mit dem Freund vereint zu 
sterben, 
Das ist ein Los, beneidenswert.
	        
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