Full text: [Teil 2 = 4. und 5. Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 2 = 4. und 5. Schuljahr, [Schülerband])

— 80 - 
31. Der Arme und der Reiche. 
Die Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Gr. Ausg. 21. Ausl. Berlin. 1886. 
Wilhelm Hertz. 8. 335. 
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber ans Erden nnter den 
Menschen wandelte, trng es sich zu, daß er eines Abends müde war, und 
ihn die Nacht überfiel, ehe er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen 
auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und 
schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem 
reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott: „Dem 
Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen, bei ihm will ich übernachten." 
Der Reiche, als er an seine Thür klopfen hörte, machte das Fenster auf 
und fragte den Fremdling, was er suche. Der Herr antwortete: „Ich bitte 
um ein Nachtlager." Der Reiche guckte den Wandersmann von Haupt bis 
zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht 
aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem 
Kopf und sprach: „Ich kann Euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen 
voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an 
meine Thüre klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. 
Sucht Euch anderswo ein Unterkommen!" schlug damit sein Fenster zu und 
ließ den lieben Gott stehen. Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken, 
ging hinüber zu dem kleinen Haus. Kaum hatte er angeklopft, so klinkte 
der Arme schon sein Thürchen auf und bat den Wandersmann einzutreten- 
„Bleibt die Nacht über bei mir," sagte er, „es ist schon finster, und heute 
könnt Ihr doch nicht weiter kommen." Das gefiel dem lieben Gott, und er 
trat zu ihm ein. Die Frau des Armen reichte ihm die Hand, hieß ihn 
willkommen und sagte, er möchte sich's bequem machen und vorlieb nehmen, 
sie hätten nicht viel, aber was es wäre, gäben sie von Herzen gerne. Tann 
setzte sie Kartoffeln ans Feuer, und derweil sie kochten, melkte sie ihre Ziege, 
damit sie ein wenig Milch dazu hätten. Und als der Tisch gedeckt war, 
setzte sich der liebe Gott nieder und aß mit ihnen, und schmeckte ihm die 
schlechte Kost gut, denn es waren vergnügte Gesichter dabei. Nachdem sie 
gegessen hatten, und Schlafenszeit war, rief die Frau heimlich ihren Mann 
und sprach: „Hör, lieber Mann, wir wollen uns heute Nacht eine Streu 
machen, damit der arme Wanderer sich in unser Bett legen und ausruhen 
kann; er ist den ganzen Tag über gegangen, da wird einer müde." „Von 
Herzen gern," antwortete er, „ich will's ihm anbieten," ging zu dem lieben 
Gott und bat ihn, wenn's ihm recht wäre, möchte er sich in ihr Bett legen 
und seine Glieder ordentlich ausruhen. Der liebe Gott wollte den beiden
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.