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schufen überall viel Leid. Endlich war man zur Abfahrt bereit
und stieß mit den Befreiten in See.
Boten waren vorausgegangen, um der Königin Hilde die
Heimkehr zu melden. Niemals hatte sie so liebe Botschaft er¬
halten; daher bereitete sie den Ihren einen festlichen Empfang.
Im Maimond langten die Ersehnten an. Als Mutter und Tochter
einander in den Armen lagen, war alles Leid vergessen. Darauf
ward fröhliche Hochzeit gefeiert. Herwig heiratete Gudrun, Ortwin
die edle Ortrun. Hartmut aber, der die treue Hildburg heim¬
führte, erhielt sein Land zurück, und fröhlich zogen die Helden,
vom Hofe scheidend, ein jeder in seine Heimat.
Richard Schillmann.
97. Frau Hütt.
In uralten Zeiten lebte im Tirolerland eine mächtige
Riesenkönigin, Frau Hütt genannt, und wohnte auf den Ge¬
birgen über Innsbruck, die jetzt grau und kahl sind, aber da¬
mals voll Wälder, reicher Äcker und grüner Wiesen waren.
Auf eine Zeit kam ihr kleiner Sohn heim, weinte und jam¬
merte; Schlamm bedeckte ihm Gesicht und Hände, dazu sah
sein Kleid schwarz aus wie ein Köhlerkittel. Er hatte sich
eine Tanne zum Steckenpferd abknicken wollen. Weil der
Baum aber am Rand eines Morastes stand, so war das Erd¬
reich unter ihm gewichen und er bis zum Haupt in den Moder
gesunken; doch hatte er sich noch glücklich herausgeholfen.
Frau Hütt tröstete ihn, versprach ihm ein neues, schönes
Röcklein und rief einen Diener, der sollte weiche Brosamen
nehmen und ihm damit Gesicht und Hände reinigen. Kaum
aber hatte dieser angefangen, mit der heiligen Gottesgabe
also sündlich umzugehen, so zog ein schweres, schwarzes
Gewitter daher, das den Himmel ganz zudeckte, und ein ent¬
setzlicher Blitz schlug ein. Als es sich wieder aufgehellt hatte,
da waren die reichen Kornäcker, grünen Wiesen und Wälder
und die Wohnung der Frau Hütt verschwunden, und überall
war nur eine Wüste mit zerstreuten Steinen, wo kein Gras¬
halm mehr wachsen konnte, in der Mitte aber stand Frau
Hütt, die Riesenkönigin, versteinert und wird so stehen bis
zum Jüngsten Tag.