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sie sahen, daß sie weiß war, so glaubten sie, es wäre alles
wahr, was er sagte, und machten die Thüre auf. Wer aber
hereinkam, das war der Wolf. Sie erschraken und wollten sich
verstecken. Das eine sprang unter den Tisch, das zweite ins
Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das
fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, das
siebente in den Kasten der Wanduhr. Aber der Wolf fand sie
alle und machte nicht langes Federlesen: eins nach dem andern
schluckte er in seinen Rachen; nur das jüngste in dem Uhr¬
kasten, das fand er nicht. Als der Wolf seine Lust gebüßt
hatte, trollte er sich fort, legte sich draußen auf der grünen
Wiese unter einen Baum und fing an zu schlafen.
Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dein Walde
wieder heim. Ach, was mußte sie da erblicken! Die Hausthüre
stand sperrweit auf: Tisch, Stühle und Bänke waren umge¬
worfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen
waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, aber
nirgend waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander bei
Namen, aber niemand antwortete. Endlich als sie an das
jüngste kam, da rief eine feine Stimme: „Liebe Mutter, ich stecke
im Uhrkasten." Sie holte es heraus, und es erzählte ihr, daß der
Wolf gekommen wäre und die andern alle gefressen hätte. Da
könnt ihr denken, wie sie über ihre annen Kinder geweint hat.
Endlich ging sie in ihrem Jammer hinaus, und das jüngste
Geißlein lief mit. Als sie auf die Wiese kam, so lag da der
Wolf an dem Baum und schnarchte, daß die Äste zitterten. Sie
betrachtete ihn von allen Seiten und sah, daß in seinem an¬
gefüllten Bauch sich etwas regte und zappelte. „Ach Gott,"
dachte sie, „sollten meine armen Kinder, die er zum Abendbrot
hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein?" Da mußte das
Geißlein nach Haus laufen und Schere, Nadel und Zwirn
holen. Dann schnitt sie dem Ungetüm den Wanst auf, und
kaum hatte sie einen Schnitt gethan, so streckte schon ein Geiß-
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