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40. Die Kornähren.
Christoph von Schmid. Kurze Erzählungen. München. 1885. Louis Finsterlin. 8. 58.
Ein Landmann ging mit seinem kleinen Sohne auf den Acker hinaus,
um zu sehen, ob das Korn bald reif sei.
„Bater. wie kommt's doch," sagte der Knabe, „daß einige Halme sich
so tief zur Erde neigen, andere aber den Kopf so aufrecht tragen? Diese
müssen wohl recht vornehm sein; die andern, die sich so tief vor ihnen
bücken, sind gewiß viel schlechter!"
Der Vater pflückte ein paar Ähren ab und sprach: „Sieh, diese Ähre
hier, die sich so bescheiden neigte, ist voll der schönsten Körner; diese aber,
die sich so stolz in die Höhe streckte, ist ganz taub und leer."
41. Der Flachs.
Hans Christian Andersen. Sämtliche Märchen. 28. Auflage. Leipzig. 1888.
Ed. Wartigs Verl. 8. 341.
Der Flachs stand in Blüte: er hatte gar niedliche, blaue Blumen,
zart wie die Flügel einer Motte und noch viel feiner! Die Sonne schien
auf den Flachs, und die Regenwolken begossen ihn; und dies war ebenso
gut für ihn, wie es für kleine Kinder ist, gewaschen zu werden und
darauf einen Kuß von der Mutter zu bekommen; sie werden dann viel
schöner, und das ward der Flachs auch.
„Die Leute sagen, daß ich ausgezeichnet gut stehe," sagte der Flachs,
„und daß ich sehr schön lang sei; es werde ein tüchtiges Stück Leinwand
aus mir werden. Nein, wie glücklich bin ich doch! Ich bin gewiß der
Glücklichste von allen! Wie habe ich es gut! Und aus mir wird auch
etwas werden. Wie der Sonnenschein erfreut, und wie der Regen gut
schmeckt und erfrischt! Ich bin grenzenlos glücklich, ich bin der Aller¬
glücklichste!"
„Ja, ja, ja!" sagte der Zaunpsahl. „Ihr kennt die Welt nicht,
aber das thun wir, denn in uns stecken Knorren," und dann knarrte es
jämmerlich:
„Schnipp-schnapp-schnurre,
basselurre.
Aus ist das Lied!"
„Nein, es ist nicht aus!" sagte der Flachs. „Morgen scheint die Sonne,
oder der Regen thut wohl. Ich fühle, wie ich wachse; ich fühle, daß ich
in Blüte stehe! Ich bin der Glücklichste!"