292
Der graubraune Sperber, von der Größe einer Taube,
macht das ganze Jahr auf kleinere Tiere Jagd. Manchmal ge¬
lingt es ihm, sich scheinbar friedlich unter einen Schwarm
Tauben zu mischen. Dann zieht er einen Augenblick mit, aber
nur, um sich eine auszuersehen und ihr recht nahe zu kommen.
Plötzlich stürzt er dann auf sie, reißt sie mit zu Boden und
würgt sie dort. Im Sommer verfolgt er auch die Schwalben,
und wie listig er das flinke Tierchen erhascht, kann dir folgen¬
des Beispiel zeigen.
Mein Vater stand eines Tages am offenen Fenster und sah
einer bauenden Schwalbe zu und bemerkte auch, wie hoch in
der Luft ein Sperber daherflog und hinter dem Hause ver¬
schwand. Aber wie erstaunte er, als der fern geglaubte Räuber
ganz nahe über das Dach zurückstrich, eine rasche Wendung
unter dessen Vorsprung machte und das unbesorgte Schwälb-
lein erhaschte. Er hatte also wohl die Gewandtheit und den
scharfen Blick der Schwalbe gekannt und kam deswegen nicht
in gerader Linie auf sie los, denn da wäre sie ihm wohl
entwischt.
Im strengen Winter kommt der Sperber auch häufig in
die Nähe der menschlichen Wohnungen, da die meisten klei¬
neren Vögel, von denen er lebt, sich dahin gezogen haben.
Und was müssen da die armen Sperlinge herhalten! Tief
schlägt er die Krallen in das Fleisch des unglücklichen Ge¬
fangenen, der, unter Zuckungen bittend zu ihm aufsehend, sein
Leben aushaucht. Dann läßt sich der Räuber im Schnee oder,
auf einen Pfosten nieder, und von dem ganzen armen Spatz
bleiben nur die größeren Federn und die Füße übrig. Selbst
die Knochen verschluckt der heißhungerige Mörder.
Friedrich Noll.