Full text: [Teil 2 = 3. und 4. Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 2 = 3. und 4. Schuljahr, [Schülerband])

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201. Der wunderschöne, große, rotgoldene Apfel. 
Ein Mägdlein wohnte weit drinnen im Walde bei seiner Gro߬ 
mutter; die war eine Here. Einmal, spät am Abend, ging ein 
Knabe vorüber, der hielt einen wunderschönen, großen, rotgoldenen 
Apfel in der Hand. Da bat das Mägdlein voll Verlangen: „Gro߬ 
mutter, gib mir auch einen Apfel. Es lüstet mich sehr danach." 
Doch die Alte sagte: „Wer zur Nacht einen Apfel ißt, muß ster¬ 
ben." Da überkam das Kind ein unendliches Mitleid mit dem 
Knaben. Wie es sich daher einen Augenblick unbemerkt sah, husch, 
war es draußen im Walde und eilte ihm nach, daß es ihn warnen 
könne. Aber es hatte gut laufen: er war nicht mehr zu sehen. 
Der Wald aber wurde immer dichter und fremder, und schon dun¬ 
kelte die schwärzeste Nacht herein, daß es kaum mehr wußte, wo 
es hintrat. Dazu rief es immerfort und horchte immer wieder, 
aber es hörte nichts als die seltsamen, fernen Stimmen des Echos. 
Endlich sah es in der Ferne einen grauen Schimmer, und wie 
es weiter und weiter lief, hatte der Wald ein Ende, und eine 
große Wiese lag davor, die in sanftem Silberlicht erglänzte. Da 
reichten auf einmal seine Blicke weit voraus, und richtig, dort 
vorne, deutlich zu erkennen, lag der so lange Gesuchte in den Blumen, 
just bereit, den Apfel zum Munde zu führen und einen herzhaften 
Biß darein zu tun. Aber zu gleicher Zeit gingen seine Augen 
geradeswegs auf das riesige Mondgesicht, das langsam den Hang 
herauskroch, und erschrocken hielt er mit offenem Munde an. Dem 
Mägdlein war es genau so ergangen. Als es des Knaben Ge¬ 
bärde ersehen hatte, wollte es ihm in höchster Angst zurufen, aber 
da erschrak es ebenfalls über den Mond und brachte kein Wort 
über die Lippen. 
Und dann war der Knabe nimmer zu sehen. Da lief und 
lief das Mägdlein wieder durch Wald und Wiesen, über Bächlein 
und Gräben und erblickte endlich einen runden Berg vor sich, auf 
dessen Gipfel eine junge Eiche wuchs. Und an dieser stand wieder 
niemand anderes als der Knabe, seinen Apfel im Mond bespie¬ 
gelnd. Wie im Flug war das Mägdlein oben. Schon wollte es 
seine Stimme erheben, denn eben wieder führte er den Apfel an 
die Zähne, als eine Eule mit entsetzlichem Gekreisch über beider 
Häupter hinwegflog, daß dem Mägdlein das Wort im Munde
	        
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