10. Ich schlich wieder fort und suchte mein Schlafzimmerchen,
das unter dem Dache lag, auf. Es war mir ganz erbärmlich zu¬
mut. Ein letztes gutes Fünklein in meinem Herzen begann sich
zu regen und aufzuglimmen. Bald sah ich das ernste Gesicht
des Lehrers vor mir, bald das arme, mißhandelte Tier, bald hörte
ich die klagenden Worte meines Pflegevaters: „Hätte ich mir
doch diese Last nicht aufgeladen!“ Was sollte ich tun? Den
Lehrer um Verzeihung bitten? Davon wußte ich nichts; ich hätte
es auch nicht gewagt, ihm vor die Augen zu treten. — Ich hatte
mehrere Stunden dagesessen, als leise die Türe aufging und
Lieschen mich zum Abendessen rief. Ich gab keine Antwort, das
Kind ging wieder, kehrte aber noch einmal zurück, kam dicht zu
mir und fragte treuherzig: „Gelt, es tut dir doch leid?“ Diese
paar Worte schmolzen das Eis der Verstocktheit und des Trotzes
vollständig — ein Tränenstrom und heftiges Schluchzen waren
meine Antwort. „Vielleicht heilt’s wieder,“ meinte Lieschen; „Mama
sagt, wenn man recht viel kaltes Wasser aufs Auge macht —
ich hab’s vorhin schon getan.“ Also der Hund lebte noch! Ich
sagte Lieschen, daß ich nichts essen könne und hier bleiben wolle.
— Eine halbe Stunde später brachte mir das Kind ein großes,
belegtes Brot. Ich aß das Brot und hob das Fleisch sorgfältig
auf. Dann setzte ich mich auf den Rand meines Bettes und war
ruhigeren Sinnes; denn ich wußte jetzt, was ich tun wollte. —
So gingen wieder einige Stunden langsam dahin. Von der nahen
Turmuhr schlug es zehn. Eine Viertelstunde später mußte alles
im Haus zu Bett sein. Ich wartete bis kurz vor elf Uhr, schlich
dann auf den Strümpfen die Treppe hinunter, öffnete leis und
vorsichtig die Hintertüre und gelangte so in den Hof. Zum Glück
schien der Mond. Ich fürchtete, der Hund würde bellen, aber
das kluge Tier hatte gemerkt, daß der Ankömmling aus dem
Hause kam und kannte mich auch wohl. Ich streichelte ihm über
Kopf und Rücken — er ließ sich alles ruhig gefallen. Das ver¬
letzte Auge war arg angeschwollen. Ich füllte des Hundes Futter¬
napf am nahen Brunnen mit Wasser, zog ein zu diesem Zweck
mitgebrachtes reines Taschentuch hervor und begann meine Arbeit.
Ich hatte mir vorgenommen, die ganze Nacht bei dem Tiere aus¬
zuhalten, und hegte nur den einen Gedanken: Es muß wieder gut
werden! Tyras merkte bald, daß ich ihm seine Schmerzen lindern
wollte; er leckte mir mehrmals die Hand. Das mitgebrachte Fleisch
nahm er aber nicht — wahrscheinlich hatten sie ihm schon etwas
Gutes gegeben. -- Hundertmal und mehr machte ich den Weg