Full text: Lesebuch für Mädchenfortbildungsschulen und ähnliche Anstalten

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Berufswahl und Beruf. 
hölzerne Stübchen, die in kleine Haken von Eisendraht ausliefen, eine Rolle Zwirn 
und ein auf Papier gezeichnetes Muster. Dieses Muster wurde nun über den Tisch 
gebreitet, von der Rolle ein Faden abgelöst und um das eine Stäbchen geschlungen, 
und Barbara hätte über die Geschwindigkeit, mit der die Fremde bald die Hölzer 
zu kreuzen, bald die Faden um die Haken zu wickeln, bald die wunderlichen Knoten 
zu schlingen wußte, erstaunt sein müssen, wenn sie darauf acht gegeben hätte. Doch 
sah sie nur in das Gesicht der Frau, deren Erzählung das größte Mitleid hervor¬ 
rufen mußte. Sie war ans Brabant. Glücklich hatte sie mit den Ihrigen bis zu 
der Zeit gelebt, da Herzog Alba von König Philipp von Spanien als Statthalter 
nach den Niederlanden geschickt wurde. Kaum in Flandern angelangt, setzte er 
einen Blutrat ein, von dem alle, deren Meinungen Verdacht erregten, verurteilt 
wurden. Entsetzlich war die Beschreibung, welche die Frau vou dem Abende machte, 
an dein Albas Knechte auch in ihre friedliche Hütte gedrungen, wie der Mann in 
unnützer Gegenwehr vor ihren eigenen Angen gefallen, und wie man ihr über dem 
Kopfe das Dach angezündet. „Da hab' ich in wenigen Stunden", fagte sie, „meinen 
Mann und ineine Heimat verloren und war gezwungen, auszuwandern gleich tausend 
andern Familien, die sich teils nach England, teils nach Deutschland wandten. 
Mein Werkzeug", fuhr sie fort, auf Stäbe und Zwirn deutend, „fand ich in der 
Tasche, als ich am andern Morgen aus einer Erstarrung erwachte. Dem Herrn 
fei Dank! Solange mir das bleibt, brauche ich nicht zu betteln. Nun wanderten 
wir, und wenn wir ausruhten, klöppelte ich; überall tvnrden meine Spitzen gern 
statt Geldes angenommen. Eine weite Strecke von hier war meine Kraft zu Ende; 
ich konnte die Füße und die Hmrde nicht mehr rühren, und da meine letzten Spitzen 
fortgegeben waren, wies man uns überall die Tür; denn ich hatte nichts mehr 
anzubieten. Zum Tode matt, kainen ivir bis vor dieses Haus, und wenn Ihr, 
Herrin, nicht ..." 
Eine lange Stille trat ein. Als sich die Frau dann gefaßter zeigte, unter¬ 
brach sie Barbara durch die schnell hingeworfene Frage: „Also du hast eben Spitzen 
geklöppelt? Ich hatte vorhin nicht acht darauf." 
Die Stäbchen und die Rolle Zwirn vor sich auf den Tisch legend, versetzte 
die Brabanterin: „Herrin, für Euch kann das auch nichts sein. Ihr tragt da an 
Eurem Tiiche seidene Spitzen, wie sie nur in Brüssel geklöppelt werden, und für 
eine Frau Eures Standes paßt sich das auch so. Aber die Bürgerfrauen lieben 
doch auch den Putz, und für die sind unsere zwirnenen Spitzen da." 
„Freilich", sagte Barbara, „wenn ich an meine Heimat, an Nürnberg, denke, 
da muß ich dir recht geben. Keine Patrizierin würde sich herbeilassen, Spitzen von 
Zwirn zu tragen. Aber wenn man, wie du sagtest, nur in Brüssel seidene Spitzen 
klöppeln kann, da muß es in den niederländischen Provinzen kümmerlich hergehen. 
Wie wenig kann mit den zwirnenen Kanten erworben werden! Die Leute, die sie 
kaufen, können ja nicht viel dafür ausgeben." 
„Wie man's nimmt, Herrin. Uns in Wahre hat diese Arbeit von Kindes¬ 
beinen an ernährt; wir kannten keine Not und waren zufrieden und glücklich dabei. 
Und glaubt nicht, daß das nur immer aus der Hand in den Mund ging; nein, 
nicht bloß mein Mann, alle Leute in Wahre haben so in jedem Jahre ein Sümm¬ 
chen für schlimme Zeit zurückgelegt. Und wie da einmal der halbe Ort weg¬ 
brannte und ein andermal der Blitz unseren Turm bis zu unterst verzehrte, da 
haben lvir mit dem Ersparten nicht nur alles wieder aufbauen können, sondern es 
blieb auch noch etwas übrig, was nun freilich Albas Knechte an sich gerissen haben. 
Lieber Gott! die in Brüssel werden wohl nicht wissen, was sie mit ihrem vielen 
Gelde anfangen sollen; aber beneidet haben lvir schlichte Zwirnklöppler sie deshalb 
doch niemals. Und dann, welch ein Vorzug ist bei unserm Klöppeln! Zu den 
seidenen Spitzen gehört eine große Übung und eine sehr geübte Hand; aber auf 
unsere zwirnenen Spitzen versteht sich ein jedes Kind. Fünfjährige Kinder klöp¬ 
pelten in Wahre. Und seht nur her: was wäre leichter als das? Da seh' ich 
erst das Muster an; danll schlinge ich den Faden um den einen Stab; dann 
werden beide Stäbe kreuzweis übereinander gelegt, und so wickelt sich der Faden
	        
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