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Strebe vorwärts!
ihr und verkrochen uns in die entferntesten Winkel. Eines Abends, als sie eben
wieder nach rastloser Wanderung ins Zimmer gestürzt kam und sich aufs Ruhebett
warf, war sie sehr beängstigend rot und ihre Augen so starr, daß mich eine ent¬
setzliche Angst befiel, es könne sie, wie kürzlich den Nachbar Veith, der Schlag
rühren. Mit zitternden Händen nahm ich ein nasses Tuch und legte es ihr auf
den Kopf. Mit einem Ruck setzte sie sich kerzengerade auf und sah mich groß an,
dann packte sie mich an -den Achseln und schüttelte mich hin und her, daß mir
schier die Sinne schwanden. Erst als ich laut aufschrie, hielt sie ein, zog mich an
sich, nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände und sah ruich so lange starr an,
bis ihr zwei dicke Tränen aus den Augen rollten. „Armer Kerl," sagte sie.
4. Tränen aus Tante Schollis Äugen waren aber etwas so Ungewohntes
und wirkten so übermächtig auf mich ein, daß ich laut zu heulen begann. Da
kamen nach und nach die andern fünf Buben aus ihren Verstecken. Alle umstanden
Tante Scholli und heulten mit mir um die Wette, ohne zu wissen, warum. Eine
Weile saß sie schweigend da, dann wischte sie mit dem Handrücken über ihre nassen
Augen, band das kalte Tuch, das ihr offenbar wohltat, fester um den Kops, stand
ruhig auf und sagte: „Ja, Kinder, auf die Art geht's nicht." Dann brachte sie
uns das Abendbrot, und als wir schmausend beisammen saßen, sagte sie ebenfalls
ganz ruhig: „Vater und Onkel sind verreist, wir werden auch verreisen."
Die Brüder machten möglichst dumme Gesichter zu der Eröffnung und hatten
offenbar für den Reisbrei unter ihren Löffeln mehr Verständnis und Interesse. Ich
aber, als der Verständigste, horchte erstaunt auf.
„Verreisen?" fragte ich voll Neugier; „reisen wir zu Vater und Onkel?"
„Nein, das ist zu weit für uns," entgegnete sie kurz.
„Ja, wo reisen wir denn hin?" wagte ich weiter zu fragen.
„Nach Wien."
„Nach Wien? — Wien ist die Hauptstadt von Nieder-Österreich," kramte ich
meine geographischen Kenntnisse aus. Tante nickte.
„Jawohl, Wien ist die Hauptstadt von Nieder-Österreich."
„Wir reisen nach Wien, in die Haupt- und Residenzstadt!" rief ich jubelnd,
wie alle aufgeweckten Kinder, wenn's Abwechslung gibt. Tante Scholli nickte
wieder.
„Jawohl, in die Haupt- und Residenzstadt^— aber freue dich nicht zu sehr,
's wird schmale Bissen dort geben." Diese Eröffnung war weniger tröstlich, denn
ich schwärmte absolut nur für ausgiebige Bissen.
Hatte Tante Scholli einmal einen Entschluß gefaßt, dann führte sie ihn auch
gleich prompt durch. So rasch als möglich verkaufte sie das Häuschen samt dem
Mobiliar.
5. Auf der Reise ging alles soweit ganz gut. Wir blieben zum Glück gesund;
Tante Scholli hatte uns nicht verweichlicht, und so konnten wir schon einen guten
Puff aushalten. Die Schwierigkeiten begannen aber, als wir endlich in der Haupt-
und Residenzstadt anlangten. Tante Scholli wußte zwar ganz gut Bescheid in den
Gassen und Straßen, sie war schon öfters in Wien gewesen, aber ohne die Zutat
von sechs frischen Buben im Alter von 4—10 Jahren, Wir liefen durcheinander
wie eine aufgestörte Herde Schafe. Der nie gehörte Lärm, die nie gesehenen
Menschenmengen, die sich hier drängten und stießen und stauten, die einander nach'
^lausen schienen, die langen Straßen mit den himmelhohen Häusern, die vielen
Wagen und Pferde, die gleißenden Schaufenster, das alles wirkte so mächtig auf
mich ein, daß mir Hören und Sehen verging. Selbst Tante Scholli kam aus
ihrer klassischen Ruhe heraus, und es blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als
uns allen sechsen „Leitseile" anzulegen, die sie in ihre Händen fassen konnte, um
uns so zusammen zu halten. Das erregte aber ungeheures Aufsehen. Dergleichen
war noch nicht dagewesen: eine lange, hagere Frau, mit einem großen Packen
auf dem Rücken, die sechs, gleichfalls schwer bepackte Buben zusammengebunden durch
die Straßen führte. — Ähnliches konnte man nicht alle Tage sehen. Wir wurden
angegafft und angestaunt und förmlich am Weitergehen verhindert. Es dauerte