Full text: Deutsches Lesebuch für Handelsschulen sowie für Real- und höhere Bürgerschulen

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171. UNorddeutsche Vegelalionsbilder. 
Germann Masius. Naturstudien. II. 1857.) 
Der Nadelwald. 
In großem Maßstabe wiederholt sich im Walde die Überkleidung 
des Erdreichs durch geselliges Gras und Kraut. Mit seinen Bäumen 
deckt sich der Rücken unserer Gebirge. Auf den Stuhl der Wolken, 
wo aus granitnen Pforten die Wildwässer brechen, stellen sich die 
Mauerstürmer und pflanzen siegendes Leben. Zu Millionen drängen 
sie sich über die Höhen, ein einziges in immer gewaltigeren Bogen 
hinausgreifendes Waldmeer, dessen Wellen plötzlich erstarrten. Nur 
eine Farbe sieht das Auge, aber in welchen unendlichen Abstufungen 
und in welcher unendlichen Ruhe! Vom Schwarz beschatteter Klüfte 
durch Lichtgrün sonnebeschienener Höhen geht es fort in dunstendes 
Grau, in schiefriges Blau und schwimmt immer weiter, immer zarter 
hinaus bis zum duftigsten Gedämmer des Horizonts. Da und dort 
wallt die langsame Dampfsäule eines Meilers oder die wirbelnde eines 
Hochofens; wie Eilande leuchten die Bergwiesen, während die nackten 
Giebel der Felsen abenteuerlich-wild hinünter blicken. Draußen aber 
über die Ferne gleiten Wolkenschatten, breit und verdunkelnd und dann 
wieder helle Felder aufdeckend, eine Flußlinie blitzt auf, eine Ruine, 
ein Turm hebt die graue Spitze aus dem Schimmer. Das alles liegt 
weit und verschollen hinaus. 
Der heiße Sonnendunst lagert sich dichter. Die Waldnacht winkt. 
Da stellt sich Säule an Säule zu endlos dämmernden Hallen. Die 
Stille eines Münsters zieht durch sie hin, schwermütig-einsam, feierlich— 
düster. Die Bäume schreiten abwärts, breite Gassen öffnend. Gräs 
sproßt auf, saftige Halme nicken, weißblütiges Labkraut zieht saubere 
Stickereien durchs Grün. Alles weist thalhinunter. Hört ihr drunten 
das Rauschen und Murmeln? Es ist ein rühriger Bach, der eine 
Schneidemühle treibt. — Wie schüttert das Brausen des Sturzes, das 
Schwingen der Räder, das Arbeiten der Säge so wundersam durch 
die grüne Stillel Sauber geschnittene Bretter liegen geschichtet, daneben 
Stämme übereinandergerollt; frischer Holzgeruch erfüllt alles umher. 
Aber man sieht keinen Menschen, das graue Mutelding von Haus uͤnd 
Hütte scheint für sich selber zu schroten. Man fühlt sich beengt und 
steigt gern aus dem Druck des Thales zur Verglehne hinauf. 
Ein ganzes Purpurfeld zieht da empor: nichts als Fingerhut! 
Oben aber dröhnt die Art; dort treiben die Holzschläger ihr Wesen. 
Mãchtige Stamme liegen umher; auch ein Bild des langhinstreckenden“ 
Todes. Sprechen sie schon so stumm daliegend die Phantasie an, so 
noch ungleich mehr in ihrem Fall und Sturz selber. Es ist eine auf— 
egende, fast ergreifende Szene. Zwei, drei Fuß über der Wurzel sett 
die Säge ein Sacht, aber sicher dringt sie vor, frißt immer liefer 
ins Mark, und der schrille Ton wird dumpfer. Unerschüttert ragt der 
Baum in die Lüfte. Um seinen Wipfel spielt noch froh das Licht. 
Indes hat schon die Säge ihr Werk gethan: der Stamm ist bis zu 
zwei Dritteilen durchschnitten. Nun werden die Keile in den Schnitt 
gesetzt. Die Holzhauer greifen zur Axt, und gellend hallt die Wucht
	        
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