Full text: Deutsches Lesebuch für Handelsschulen sowie für Real- und höhere Bürgerschulen

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ihrer Schläge durch den erschreckten Wald. Ein Zittern geht durch 
den Stamm — ein Schwanken — die Krone sinkt vor den schwin— 
delnden Blicken oben durch die Luft, erst langsam, dann schnell und 
im wachsenden Übergewicht immer jäher, bis sie brausend, krachend, 
splitternd durch alle die grünen „Nachbararme“ hindurchschlägt. Unter 
dem donnernden, alles verschlingenden Sturz bebt der Boden. Ein 
dunkles Echo wälzt sich durch die Tiefen des Gebirges, und dann 
ist's still, und keine Zweigspitze rührt sich mehr. Ist die Fichte ge— 
fällt, so quillt aus dem Stümpfe noch lange der Saft, bis endlich die 
Wurzel abstirbt. 
Bergan, thalab führt der dunkle Pfad. Wir überschreiten wilde 
Klippenfelder, wo um den einsamen Horst der Falke kreist, wo der 
Marder lauert, im Gestrüpp die Nachtschwalbe schläft. Schnarrend, wie 
ein fliegendes Rad, fährt sie beim Schall der Tritte auf. Es ist ein 
großartig wüstes Trümmerbild, das uns umgiebt. Unter diesen steinernen 
Schwellen, tief im Geklüft, grollt der Wildbach; hierher schleudert der 
Blitz seine Wetterkeile, hier tobt die wilde Jagd der Winde. Ver— 
witterte Baumruinen stehen umher, Waldgespenster, die starre Arme 
emporheben und uns grausig-skurril anglotzen. 
Wie kontrastiert gegen dieses Chaos die freundliche Bergwiese! 
In sanftgeschwungener Linie, oft muldenartig vertieft, liegt sie ruhig 
in dem dunkeln, schroffen Tannenrahmen. Ein reizender Teppich, gegen 
welchen keine Wiese der Ebene aufkömmt. Kamille, Orchis, gelber und 
roter Klee, Ampfer, Vogelwicken, zahllose würzige Kräuter drängen sich 
aus dem saftigen Grase. Hier schwirrt der Bergfink um tauige Kelche, 
bunte Schmetterlinge schweben darüber hin, aber jetzt in der Dämmerung 
kömmt das Reh zur Weide. 
Denn immer tiefer dunkelt es zwischen den hohen Stämmen, und 
langsam zieht das Gebirge in den Abend hinein. Schon ruft auch die 
Baumeule über uns hin, in den Gründen beginnt's zu murmeln, die 
alten Fichten am Wege ächzen, alles reckt und streckt sich phantastisch— 
formlos, so daß man eilender das Licht eines Gipfels sucht. 
Dort glüht die Sonne aus. In das niederbrennende Rot auf 
den Höhen schlagen die Glocken der Thäler. Dämmerfrieden hüllt 
das mn aber durch die Bäume wandelt mit schwarzen Augen 
die Nacht. 
172. Der Urwald. 
(K. F. Ph. von Martius. Reise in Brasilien. J. 1824) 
Die Urwälder, welche als Zeugen der schöpferischen Kraft des 
neuen Kontinentes in ursprünglicher Wildheit und noch unentweiht 
durch menschliche Einwirkung daästehen, nennt man in Brasilien jung— 
fräuliche Wälder (Mato⸗Virgem). In ihnen weht den Wanderer euro— 
päische Kühle an, und zugleich tritt ihm das Bild der üppigsten Fülle 
entgegen; eine ewig junge Vegetation treibt die Bäume zu majestätischer 
Große einpor, und noch nicht zufrieden mit diesen riesenhaften uralten 
Denkmälern ruft die Natur auf jedem Stamme eine neue Schöpfung 
von vielen grünenden und blühenden Parasiten hervor. Statt jener
	        
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