Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

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und Anne-Mariechen ward es nnt ihm. Sie konnte nicht begreifen, 
warum er nicht lustig fortgrünte und blühte; sie that ihm doch alles 
Liebe und Gute. Noch vor Schlafengehen brachte sie ihm wieder Wasser 
und sah ihn lange freundlich und nachdenklich an. 
In der Nacht zog ein entsetzliches Wetter herauf!. Der Sturm 
sauste durch die Lust, Blitze fuhren durch die Dunkelheit, der Donner 
krachte unaufhörlich, und dann rauschte mächtiger Regen hernieder. Der 
Bach schwoll an, und seine Wellen jagten eilig am Rosenstrauch vorüber; 
da rief der: „Jetzt nimm mich mit! nimm mich mit! bringe mich zum 
Königsgarten!" — In demselben Augenblicke ging die Thür des kleinen 
Hauses auf, und Anne-Mariechen erschien in derselben. Sie wollte 
sehen, ob das Unwetter ihrem lieben Rosenstrauch nicht zu weh thäte. 
Ein heller Blitzstrahl zeigte ihre kleine Gestalt im leichten Röckchen, 
ihr angstvolles Gesichtchen, — aber Sturm und Regen tobten gar zu 
arg und jagten sie zurück in das Haus. Und die Wellen riefen: „Bleibe 
hier, bleibe hier, beim Anne-Mariechen!" Aber der Rosenstrauch bat und 
flehte immer mehr und mehr und immer heftiger und dringender, und 
da ward der Bach zornig. „Jetzt hab' ich's satt," rief er, .„so komm 
denn mit, du Thor, wenn du es durchaus willst." Und er riß den 
Strauch mit allen Wurzeln aus dem Boden; heftiger Schmerz durch¬ 
zuckte seine Zweige, Blätter, Blüten und Knospen, und er ächzte tief 
auf, — der Bach aber riß ihn mit fort, weit, weit fort, in die ferne 
Welt hinaus. 
4. i 
Das Gewitter war vorüber, die Nacht tief dunkel, und auf den 
schäumenden Wellen fuhr der Rosenstrauch weiter und weiter. Es ward 
ihm angst und bange, und er rief den Wellen zu: „Nicht so schnell!" 
— und dann in steigender Furcht: „O, bringt mich heim zum Anne- 
Mariechen!" Aber der Bach rauschte: „Du hast's gewollt!" und 
rauschte weiter, immer weiter. 
Da endlich kam der Morgen! Der Lauf des Baches ward allmäh¬ 
lich langsamer, und plötzlich fühlte der Rosenstock einen Halt am Ufer; 
er lag am Fuß einer kleinen Brücke. Leicht schwang sich ein seiner 
Bogen mit zierlichem Geländer über den Bach, ganz anders als der 
kleine Steg an Anne-Mariechens Häuschen. Die Sonne ging auf in 
stiller Pracht, und der Rosenstock schaute erstaunt um sich, — welch' 
glitzernde, strahlende Herrlichkeit umgab ihn. Ja! das war der Königs¬ 
garten, von dem ihm der Vogel erzählte. In der Ferne sah er das 
prächtige Schloß, ringsum den herrlichen Garten mit seinen Blumen, 
Springbrunnen und Wundervögeln, nnd auf allen Bäumen, Sträuchern und 
Blumen glänzten wie Tausende von Diamanten die Regentropfen der Nacht 
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