Full text: Deutsches Lesebuch für die lateinische Schule und die beiden unteren Kurse des Realgymnasiums

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genauer zu vergegenwärtigen; aber kaum war er drei Schritte ge— 
gangen, so war er in der Irre. Alles flimmerte vor seinen Augen, 
und es war ihm, wie wenn die Bäume auf und niederwandelten 
und ihm den Weg verstellten. Der Morgen brach endlich an; die 
Vögel schwangen sich auf und sangen ihre hellen Lieder; vom Thale 
und aus den Bergen hörte man Peitschen knallen.. Der Mörder 
machte sich eiligst davon. Die Leiche wurde gefunden und nach dem 
Dorfe gebracht, in dessen Gemarkung sie lag. An der rechten Schläfe 
trug der entseelte Körper Spuren eines Schlages wie von einem 
scharfen Stein. Kein Wanderbuch, kein Kennzeichen war zu finden, 
aus dem man die Herkunft des Entseelten entnehmen konnte. Auf 
dem Kirchhofe, der neben der Kirche hoch oben auf dem Hügel liegt, 
an dessen Fuß die Landstraße, in Felsen gehauen, sich vorüberzieht, 
sollte nun des andern Tages der tote Fremde begraben werden. 
Eine unzählige Menge Menschen folgte dem Zuge. Sie waren aus 
allen benachbarten Dörfern gekommen; jeder wollte seine Unschuld, 
seine Trauer und seine Teilnahme bekunden. Still, ohne laute 
Klage, nur mit tiefem Weh im Herzen bewegte sich der Zug den 
Berg hinan.“ Der Geistliche hielt eine ergrelfende Rede. Zuerst 
redete er den Entseelten an und sprach: 
„Auf dem Wege bist du gefallen. Wer weiß, wohin deinHerz 
sich sehnte, welches Herz dir entgegenschlugl Möge der, der alles 
kennt und alles heilt, Ruhe und Frieden in die Seelen der Deinigen 
senden! Unbekannt bist du gefallen von unbekannter Hand. Niemand 
weiß, woher du kamst, wohin du gingst; aber er, der deinen Ein— 
gang und deinen Ausgangs kennt, hat dich Bahnen hinaufsteigen 
lassen,“ die unser Auge nie mißt. Zu welcher Kirche du gehörtest, 
welche Sprache du redetest, wer mag den stummen Mund fragen? 
Du stehst jetzt vor ihm, der über allen Welten tront, den alle 
Sprachen nennen und doch nicht zu fassen vermögen.“ — „Erhebet 
mit mir eure Hände!“ fuhr der Geistliche zu den Versammelten fort, 
und alle hoben die Hände empor; dann sprach er wieder: „Wir 
heben unsere Hände empor zu dir, o Allwissender; sie sind rein 
von Blutschuld. Hier im Lichte der Sterne bekennen wir: Wir sind 
rein von der That. Die Gerechtigkeit aber wird nicht ausbleiben. 
Wo du auch weilest, der du deinen Bruder in Waldesnacht erschlugst; 
das Schwert schwebt unsichtbar über deinem Haupte, und es wird 
fallen und dich zerschmettern.s Kehr' um, so lange es noch Zeit ist! 
Häufe nicht Frevel auf Frevel! Denn einst, wenn sie ertoͤnt, die 
Posaune des Gerichts ·ñ — —“ 
Da plötzlich hörte man von der Straße herauf das Posthorn 
erschallen. Das Lied erklang: „Denkst du daran?“ — Alles schwieg 
Gerade dieser Gegensatz der fröhlich aufwachenden Natur und des froh— 
rührigen Menschenlebens muß für den Schuldbelasteten schrecklich sein. Gr. 8 111; A. 
Nach der hl. Schrift; Sinn dieser Stelle? — Gr. F 121. 5 Duch diese Satzstellung 
gewinnen die Gedanken an schöner Wirkung. » Bilde ein gleiches Satzgefügel
	        
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